Emil oder Ueber die Erziehung
für ihn haben. Je größere Zurückhaltung eine Frau beobachtet, desto mehr Kunst muß sie aufbieten, selbst ihrem Manne gegenüber. Ja, ich behaupte, daß man dadurch, daß man die Coquetterie in ihren Schranken hält, derselben den Charakter des Sittsamen und Wahren verleiht, daß man ein Gesetz der Ehrbarkeit aus ihr macht.
»Die Tugend bildet eine untheilbare Einheit,« behauptete mit vollem Rechte einer meiner Gegner; man kann sie nicht zerlegen, um einen Theil anzunehmen und einen anderen zu verwerfen. Wenn man liebt, so liebt man mit seinem ganzen ungetheilten Wesen. Gefühlen, welche man nicht hegen darf, verschließt man sein Herz, wenn man vermag, seinen Mund aber immer. Das sittlich Wahre ist nicht das, was ist, sondern das, was gut ist. Das Böse sollte gar nicht vorhanden sein und darf nicht eingestanden werden, vorzüglich wenn es durch dieses Eingeständniß eine Wirkung erhält, welche es sonst nicht gehabt hätte. Hätte sich die Versuchung zu stehlen in mir geregt und hätte ich nun durch Mittheilung meiner Absicht einen Anderen in die Versuchung geführt, mein Mitschuldiger zu werden, würde dann nicht die Entdeckung meiner Versuchung eben so viel sein, als wenn ich ihr unterlegen wäre? Weshalb behauptet ihr, daß die Schamhaftigkeit die Frauen falsch mache? Können etwa diejenigen, welche sie am meisten verloren haben, mehr Anspruch auf Wahrheit machen als die anderen? Weit gefehlt! Sie sind tausendmal falscher. Man sinkt bis zu diesem Grade der Verdorbenheit nur durch Laster herab, welche man sämmtlich behält, und die nur vermittelst der Intrigue und der Lüge herrschen. [12] Im Gegentheile sinddiejenigen, welche noch Schamgefühl besitzen, welche ihre Fehler nicht mit Stolz zur Schau tragen, welche ihre Wünsche selbst denen, die sie ihnen einflößten, zu verhehlen wissen und sich ihre Geständnisse nur mit Mühe entreißen lassen, auch sonst in allen ihren Verbindungen die wahrsten, die aufrichtigsten und beständigsten, und diejenigen, auf deren Treue man sich im Allgemeinen mit größter Sicherheit verlassen kann.
Als einzige Ausnahme zu diesen Bemerkungen hat man meines Wissens Fräulein von Lenclos anführen können; dafür hat Fräulein von Lenclos aber auch für ein Wunder gegolten. Bei ihrer Geringschätzung der Tugenden ihres eigenen Geschlechtes soll sie, wie man sich erzählt, die unseres Geschlechtes beobachtet haben. Man rühmt ihren Freimuth, ihre Redlichkeit, ihre Sicherheit in den Umgangsformen, ihre Treue in der Freundschaft, kurz, um ihr Ruhmesbild mit einem einzigen Pinselstriche zu vollenden, man sagt, sie hätte sich förmlich in einen Mann verwandelt. Meinetwegen! Allein trotz seines hochtönenden Rufes hätte ich diesen Mann weder zu meinem Freunde noch zu meiner Geliebten haben mögen.
Alles, was ich so eben erwähnt habe, liegt unserem Thema nicht so fern, als es vielleicht den Anschein hat. Mir ist klar, worauf die Grundsätze der neueren Philosophie, welche die Schamhaftigkeit und vermeintliche Falschheit des weiblichen Geschlechts zu einem Gegenstande des Gespöttes machen, abzielen. Mir ist aber auch eben so klar, daß die sicherste Wirkung dieser Philosophie die seinwird, den Frauen unseres Jahrhunderts auch noch das Wenige von Ehrbarkeit und Sittsamkeit zu rauben, welches ihnen noch geblieben ist.
Nach diesen Betrachtungen lassen sich, wie ich glaube, schon im Allgemeinen Bestimmungen treffen, welche Art von Bildung für den Geist der Frauen am passendsten ist, und auf welche Gegenstände man ihr Nachdenken von Jugend auf lenken muß.
Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Pflichten ihres Geschlechtes leichter erkennen als erfüllen lassen. Das Erste, was die Frauen lernen müssen, ist, ihre Pflichten dadurch, daß sie sich die Vortheile vorhalten, welche ihnen dieselben bringen, lieb zu gewinnen. Hierin liegt das einzige Mittel für sie, sich dieselben leicht zu machen. Jeder Stand und jedes Lebensalter hat seine Pflichten. Man erkennt die seinigen sehr bald, wofern man sie nur liebt. Ehret euern Frauenstand, dann werdet ihr, welche Stellung euch der Himmel auch sonst angewiesen haben möge, stets treue Eheweiber sein. Das Wesentlichste ist, daß wir das sind, wozu uns die Natur gemacht hat. Man ist leider nur immer zu sehr das, wozu die Menschen uns stempeln wollen.
Die Erforschung der abstracten und spekulativen Wahrheiten, der Principien, der Axiome in den Wissenschaften, kurz alles dessen, was auf die Verallgemeinerung der Ideen
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