Emil oder Ueber die Erziehung
ausgeht, gehört nicht in das Gebiet der Frauen. Ihre Studien müssen sich alle auf das Praktische erstrecken. Ihnen kommt es zu, die Grundsätze, welche der Mann aufgefunden hat, zur Anwendung zu bringen, kommt es zu, die Beobachtungen anzustellen, welche den Mann zur Aufstellung der Grundsätze führen. Alle Betrachtungen der Frauen in Bezug auf solche Dinge, die nicht unmittelbar mit ihren Pflichten im Zusammenhange stehen, sollen auf das Studium der Männer oder auf solche angenehme Kenntnisse gerichtet sein, welche es nur mit dem Geschmacke zu thun haben. Die Werke des Genies übersteigen ihre Fassungskraft, und außerdem fehlt es ihnen an der genügenden Genauigkeit und Aufmerksamkeit, um die exacten Wissenschaften mit Erfolg betreiben zu können. DieNaturwissenschaften eignen sich für dasjenige der beiden Geschlechter, welches die meiste Thätigkeit entfaltet, am meisten auf den Aufenthalt im Freien angewiesen ist und deshalb auch die meisten Gegenstände zu sehen bekommt. Demjenigen Geschlecht, welches im Besitze der größten Kraft ist und sie am meisten ausübt, kommt es auch zu, über die Verhältnisse der sinnlich wahrnehmbaren Wesen und über die Naturgesetze zu urtheilen. Das Weib, welches sich seiner Schwäche bewußt ist und von der Außenwelt wenig sieht, schätzt und beurtheilt nur die bewegenden Kräfte, welche es anzuwenden vermag, um für seine Schwäche Ersatz zu finden, und diese bewegenden Kräfte sind die Leidenschaften des Mannes. Das Triebwerk, dessen es sich hierbei bedient, ist stärker als das unserige; alle seine Hebel arbeiten unablässig daran, das menschliche Herz in Schwanken zu versetzen. Zu Allem, was sein Geschlecht nicht selbst zu verrichten im Stande ist, was ihm aber nothwendig oder angenehm ist, bedarf es der Kunst, um uns den Impuls zur Ausführung zu geben. Es muß zu dem Zwecke den Mann bis in die Tiefe seiner Seele studiren, nicht durch Abstraction die Seele des Mannes im Allgemeinen, sondern die Seele der Männer, welche es umgeben, die Seele der Männer, welchen es, sei es durch das Gesetz oder durch die Meinung, unterworfen ist. Es muß aus ihren Reden, Handlungen, Blicken und Geberden ihre Gefühle errathen lernen. Durch seine eigenen Reden, Handlungen, Blicke und Geberden muß es sie mit den Gefühlen zu erfüllen verstehen, welche ihm angenehm sind, ohne daß es auch nur den Anschein hat, als dächte es daran. Die Männer werden besser als das Weib über das menschliche Herz Philosophiren, dieses aber wird dafür besser als sie im Menschenherzen zu lesen verstehen. Die Aufgabe der Frauen ist es – wenn ich mich so ausdrücken darf – die Experimental-Moral zu erfinden, unsere Aufgabe ist es dagegen, die auf diesem Wege gewonnene Moral in ein System zu bringen. Die Frau hat mehr Geist, der Mann mehr Genie; die Frau beobachtet, der Mann zieht Schlüsse. Aus Beider Zusammenwirken entsteht die klarste Einsicht und dasvollkommenste Wissen, welche der menschliche Geist aus sich selber zu schöpfen vermag, mit einem Worte die sicherste Kenntniß seiner selbst und Anderer, soweit sich dieselbe menschliche Fähigkeit anzueignen vermag. Da sehen wir an einem Beispiele, wie die Kunst zur Vervollkommnung des uns von der Natur gegebenen Werkzeugs unaufhörlich beizutragen im Stande ist.
Die Welt ist das Buch der Frauen. Wenn sie es schlecht zu lesen verstehen, so liegt die Schuld an ihnen, oder an irgend einer Leidenschaft, die sie verblendet. Weit davon entfernt, eine Weltdame zu sein, lebt die wahre Hausfrau indeß nicht weniger abgeschlossen in ihrer Häuslichkeit, als die Nonne in ihrem Kloster. Man sollte deshalb bei den jungen Mädchen, welche man zu verheirathen beabsichtigt, dasselbe Verfahren in Anwendung bringen, welches man bei denjenigen beobachtet oder doch beobachten sollte, welche man für das Kloster bestimmt; man sollte ihnen die Vergnügungen, deren sie sich später enthalten sollen, zeigen, ehe man sie denselben zu entsagen zwingt, damit das falsche Bild, welches sie sich von den ihnen unbekannten Unterhaltungen entwerfen, nicht ihre Herzen dereinst irre zu führen und das Glück ihrer Zurückgezogenheit zu stören vermöge. In Frankreich leben die Frauen in ihrer Jugend in den Klöstern, nach ihrer Verheirathung lassen sie sich aber überall in der Oeffentlichkeit sehen. Bei den Alten fand das umgekehrte Verhältniß statt. Die Mädchen nahmen, wie bereits gesagt, an vielen Spielen und öffentlichen Festen Theil, die Frauen lebten dagegen zurückgezogen.
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