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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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beginnen soll, so stellt einen Mann zwischen zwei Frauen, mit deren jeder er ein geheimes Verhältniß angeknüpft hat, und beobachtet nun, welche traurige Figur er spielen wird. Stellt dagegeneine Frau in der nämlichen Lage zwischen zwei Männer, etwas, was sich gewiß nicht seltner ereignen könnte, und ihr werdet in Verwunderung über die Geschicklichkeit gerathen, mit der sie Beide hinter das Licht führt und zu Wege bringt, daß Jeder den Andern zum Gegenstande seines Spottes macht. Wie hätten sie sich nun wol auch nur einen Augenblick täuschen lassen, wenn diese Frau ihnen ein gleiches Vertrauen bewiesen hätte und ihnen mit der nämlichen Vertraulichkeit entgegengetreten wäre? O, wie viel besser weiß sie es doch anzustellen! Weit davon entfernt, das gleiche Benehmen gegen sie zu beobachten, trägt sie vielmehr recht auffällig ein ungleiches Betragen gegen sie zur Schau. Sie fängt ihre Sache so geschickt an, daß derjenige, welchem sie zu gefallen sucht, meint, ihr Benehmen sei ein Ausfluß ihrer Zärtlichkeit, während derjenige, welchen sie zurückstoßend behandelt, darin ein Zeichen gekränkter Liebe erblickt. Mit seinem ihm zugefallenen Theile zufrieden, glaubt deshalb Jeder, daß sie sich ausschließlich mit ihm beschäftige, während sie sich in Wahrheit nur mit sich selbst beschäftigt.
    Bei dem allgemeinen Wunsche zu gefallen gibt die Coquetterie noch andere ähnliche Mittel an die Hand. Launen könnten nur abstoßend wirken, wenn man sich ihrer nicht geschickt zu bedienen verstände. Aber gerade dadurch, daß die Coquetterie sie mit Kunst anwendet, weiß sie ihre Sklaven am stärksten zu fesseln.
    Usa ogn’ arte la donna, onde sia colto
    Nella sua rete alcun novello amante;
    Nè con tutti, nè sempre un stesso volto
    Serba; mà cangia a tempo atto a sembiante. [11]
    Worauf anders beruht diese ganze Kunst, als auf feinen und unaufhörlichen Beobachtungen, welche der Frau in jedem Augenblicke alle Regungen in den Herzen derMänner erkennen lassen, und sie befähigen, bei jeder geheimen Bewegung, die sie bemerkt, alle Kraft zur Zurückhaltung oder Beschleunigung derselben aufzubieten. Läßt sich diese Kunst nun erlernen? Nein, sie ist den Frauen angeboren. Alle besitzen sie, und nie vermögen die Männer sie sich in demselben Maße anzueignen. Sie gehört zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten des schönen Geschlechts. Geistesgegenwart, Scharfblick, feine Beobachtungsgabe machen das Wissen des Weibes aus; in der Geschicklichkeit, diese Gaben zur Geltung zu bringen, bekundet sich ihr Talent.
    So ist es, und wir haben eingesehen, weshalb es so sein muß. Man will uns einreden, daß die Frauen falsch seien. Nein, sie werden es erst. Gewandtheit und nicht Falschheit ist die ihnen eigenthümliche Gabe. In den wahren Neigungen ihres Geschlechts sind sie selbst dann, wenn sie lügen, nicht falsch. Weshalb befragt ihr ihren Mund, wenn doch dieser nicht die Antwort geben soll? Befragt ihre Augen, ihre Gesichtsfarbe, ihre Athemzüge, ihr schüchternes Wesen, ihren schwachen Widerstand. Das ist die Sprache, die ihnen die Natur verliehen hat, um euch die Antwort zu ertheilen. Der Mund sagt stets nein, und muß es sagen; aber der Ton, in dem sie dies Wörtchen sprechen, ist nicht immer der nämliche, und dieser Ton versteht sich nicht aufs Lügen. Theilt nicht die Frau die Bedürfnisse des Mannes, ohne doch dasselbe Recht zu besitzen, sie zu äußern? Ihr Loos würde zu grausam sein, wenn ihr nicht einmal bei ihren berechtigten Wünschen eine Sprache zu Gebote stände, die es an Verständlichkeit mit der, welche sie nicht zu führen wagt, aufzunehmen vermag. Muß sie ihre Schamhaftigkeit denn unglücklich machen? Bedarf sie nicht einer Kunst, ihre Neigungen mitzutheilen, ohne sie geradezu selbst zu enthüllen? Welche Gewandtheit muß sie nicht entfalten, um es dahin zu bringen, daß man ihr raube, was sie zuzugestehen auf das Sehnlichste wünscht! Von wie großer Wichtigkeit ist es nicht für sie, sich mit der Kunst vertraut zu machen, das Herz des Mannes zu rühren, ohne den Schein zu erwecken, daß sie an ihn denke! Wie reizend ist nicht die Erzählung vondem Apfel der Galathea und ihrer ungeschickten Flucht! Was sollte sie wol noch hinzufügen? Soll sie dem Hirten, der ihr bis unter die Weiden nachfolgt, auch noch sagen, daß sie nur in der Absicht die Flucht ergriffen habe, ihn nachzulocken? Das würde eigentlich eine Lüge in sich schließen, denn alsdann würde sie ferner nichts Anlockendes mehr

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