Emil oder Ueber die Erziehung
Vorzüge aufweisen können. Eine auf Achtung gegründete Huldigung vermag ihrem stolzen Herzen zu schmeicheln, aber jede nur artige Spöttelei wirkt abstoßend auf sie. Sophie ist nicht dazu geschaffen, sich zum Uebungsstoff für die kleinen Talente eines Tropfes herzugeben.
Bei einer so großen Reife des Urtheils und bei einer Entwickelung, wie man sie in jeder Hinsicht nur bei einem zwanzigjährigen Mädchen erwarten kann, wird sie schon in einem Alter von fünfzehn Jahren von ihren Eltern nicht mehr als Kind behandelt werden. Kaum bemerken sie aus den ersten Zeichen, daß sich bei ihr jene Unruhe der Jugend eingestellt hat, so werden sie sich beeilen, dieselbe, ehe sie noch weiter um sich zu greifen im Stande ist, aufzuheben. Sie werden liebevolle und verständige Gespräche mit ihr anknüpfen. Solche liebevolle und verständige Gespräche sind gerade für ihr Alter und ihren Charakter recht geeignet. Ist ihr Charakter so, wie ich ihn mir eben vorstelle, weshalb sollte dann nicht ihr Vater ungefähr folgendermaßen zu ihr sagen dürfen:
»Sophie, du bist jetzt ein erwachsenes Mädchen; man wird es aber nicht, um immer ein Mädchen zu bleiben.Wir wünschen, daß du glücklich wirst, wünschen es um unsertwillen, da unser Glück auf dem deinigen beruht. Das Glück eines rechtschaffenen Mädchens besteht darin, das Glück eines rechtschaffenen Mannes zu begründen. Wir müssen deshalb daran denken, dich zu vermählen; wir müssen frühzeitig daran denken, denn von der Ehe hängt das Lebensschicksal ab, und man hat nie zu viel Zeit, daran zu denken.«
»Nichts ist schwieriger als die Wahl eines guten Gatten, wenn es nicht etwa die einer guten Gattin ist. Du, Sophie, wirst ein solches seltenes Weib sein, du wirst den Ruhm unseres Lebens und das Glück unserer alten Tage ausmachen. Aber mit welchen Vorzügen du auch ausgestattet sein magst, so wird es auf Erden trotzdem nicht an Männern fehlen, die noch mehr Vorzüge als du besitzen. Es gibt keinen, der sich durch deinen Besitz nicht geehrt fühlen würde, es gibt aber viele, deren Hand dir noch zu größerer Ehre gereichen würde. Nun kommt es darauf an, aus dieser Zahl einen herauszufinden, der dir gefällt, ihn kennen zu lernen und dich wiederum mit ihm bekannt zu machen.«
»Das höchste eheliche Glück hängt von so vielen Rücksichten und Verhältnissen ab, daß es eine Thorheit wäre, sie alle vereint sehen zu wollen. Es ist nun zunächst nöthig, sich der wichtigsten zu vergewissern; finden sich dann noch die anderen dazu, so zieht man den größtmöglichen Nutzen aus ihnen, sind sie jedoch nicht vorhanden, nun, so setzt man sich darüber hinweg. Auf Erden gibt es einmal kein vollkommenes Glück. Allein das größte Unglück und zugleich dasjenige, dem man immer aus dem Wege gehen kann, ist, sich durch eigene Schuld unglücklich machen.«
»Es gibt Verhältnisse, die von der Natur bestimmt sind, dann solche, die auf menschlichen Einrichtungen beruhen, und endlich solche, die sich allein auf die allgemeine Meinung zurückführen lassen. Ueber die beiden letzteren Gattungen steht den Eltern, über die erste den Kindern die Entscheidung zu. Bei den Ehen, die nach dem Willen der Väter geschlossen werden, richtet man sein Augenmerknur auf die von den menschlichen Einrichtungen und Meinungen ausgehenden Verhältnisse. Den Hauptgegenstand bei der Ehe bildet dann nicht die Person, sondern die Verhältnisse und das Vermögen derselben. Doch in beiden kann eine Veränderung eintreten; nur die Personen bleiben immer; überall tragen sie sich mit hin. Dem Vermögen zum Trotz beruht das Glück oder Unglück einer Ehe nur auf den persönlichen Eigenschaften.«
»Deine Mutter war von vornehmem Stande, ich war reich. Dies waren die einzigen Rücksichten, von welchen sich unsere Eltern bei unserer Vereinigung leiten ließen. Ich habe mein Vermögen verloren, sie hat ihren Namen aufgeben müssen. Was hilft es ihr heute, wo sie von ihrer Familie vergessen ist, als Edelfräulein geboren zu sein? Die Vereinigung unserer Herzen hat uns jedoch in unserem Unglück über Alles getröstet. Die Übereinstimmung unserer Neigungen hat uns diese Abgeschiedenheit wählen lassen. Hier leben wir in unserer Armuth glücklich; wir finden in einander für Alles Ersatz. Du, Sophie, bist unser gemeinsamer Schatz; wir preisen den Himmel, daß er uns in dir einen Schatz gegeben und uns alles Uebrige genommen hat. Sieh, mein Kind, wohin die Vorsehung uns geleitet: die Verhältnisse, welche die
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