Emil oder Ueber die Erziehung
wahren Verlangen zu gefallen hat, und deshalb auch wirklich gefällt. Alle triviale Höflichkeitsbezeigungen sind ihr fremd, und sie hat eben so wenig das Bestreben, gewähltere zu erfinden. Sie führt nie Redensarten im Munde, wie: »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, »Sie erzeigen mir viel Ehre«, »Bemühen Sie sich nicht« u. s. w. Eine Aufmerksamkeit, eine ihr erwiesene Höflichkeit erwidert sie mit einer Verneigung oder mit einem einfachen: »Ich danke Ihnen«. Allein dies Wort, von einem solchen Munde gesprochen, wiegt wol ein anderes auf. Für einen wirklichen Dienst läßt sie ihr Herz sprechen, und dieses ergeht sich nicht in Complimenten. Nie hat sie sich durch das französische Herkommen verleiten lassen, das gezierte Wesen nachzuahmen, wie beim Gehen aus einem Zimmer in das andere ihre Hand auf den Arm eines Sechzigjährigen zu legen, dem sie am liebsten selbst als Stütze dienen möchte. Wenn ein süßlicher Geck so ungezogen ist, ihr diesen Dienst anzubieten, so läßt sie den dienstfertigen Herrn auf der Treppe, und schwingt sich mit zwei Sätzen ins Zimmer, indem sie ihm zuruft, daß sie gottlob nicht hinke. Obgleich sie nicht groß ist, hat sie ihre Schuhe nie mit hohen Absätzen versehen lassen; ihre Füßchen sind in der That auch niedlich genug, daß sie sich ohne dieselben behelfen kann.
Nicht nur Frauen, sondern auch verheirateten oder älteren Männern gegenüber beobachtet sie Schweigen und Ehrerbietung. Nur aus Gehorsam wird sie einen Platz über denselben einnehmen und sich, sobald es thunlich ist, wieder unter sie setzen, denn sie weiß, daß die Rechte des Alters vor denen ihres Geschlechts den Vortritt behaupten, daß das Alter die Weisheit, welche vor Allem Ehre verdient, für sich geltend machen kann.
Bei jungen Leuten ihres Alters ist es freilich etwas Anderes; ihnen gegenüber muß sie einen andern Ton anschlagen, um ihnen Achtung abzugewinnen, und sie weiß ihn zu treffen, ohne das bescheidene Wesen aufzugeben, welches ihr im Verkehre mit denselben ziemt. Benehmen auch sie sich bescheiden und zurückhaltend, so wird sie ihnen gegenüber gern die liebenswürdige Vertraulichkeit der Jugend bewahren. Ihre unschuldsvollen Unterhaltungen werden sich bei allem Muthwillen stets in den Schranken des Anstands halten. Wenn sie einen ernsten Charakter annehmen, so verlangt sie, daß sie auch nützlich seien. Arten sie jedoch in fades Geschwätz aus, so wird sie dieselben bald abbrechen; denn sie verachtet namentlich die seichten Redensarten der Galanterie, die sie als tiefe Beleidigungen ihres Geschlechts betrachtet. Sie ist sich dessen sehr wohl bewußt, daß sich der Mann, den sie sucht, solcher Redensarten nicht bedient, und nie wird sie leicht von einem Anderen dulden, was mit dem Charakter desjenigen, dessen Bild sich ihrem Herzen tief eingeprägt hat, nicht in Einklang steht. Die hohe Meinung, die sie von den Rechten ihres Geschlechts hat, die Seelenhoheit, welche ihr die Reinheit ihrer Gesinnungen verleiht, die Thatkraft der Tugend, welche sich in ihr regt und sie mit der Gewißheit erfüllt, daß sie Achtung verdient, bewirken, daß sie nur mit Unwillen die süßlichen Reden anhört, mit denen man sie zu unterhalten bemüht ist. Sie nimmt sie nicht etwa mit anscheinendem Zorne auf, sondern mit jenem ironischen Beifall, der die Redner verwirrt, oder mit einem kalten Tone, auf den man am allerwenigsten gefaßt ist. Sollte ein schöner Phöbus seine Artigkeiten an ihr verschwenden, sollte er geistreicher Weise ihren Geist, ihre Schönheit, ihreAnmuth, das unschätzbare Glück, ihr zu gefallen, herausstreichen, so ist sie ganz das Mädchen dazu, ihn zu unterbrechen und höflich zu ihm zu sagen: »Mein Herr, das sind Dinge, die mir besser bekannt sind als Ihnen. Wenn wir einander nichts Merkwürdigeres mitzutheilen haben, so glaube ich, daß wir hiermit unsere Unterhaltung schließen können.« Diese Worte mit einer tiefen Verneigung begleiten und sich sofort zwanzig Schritte entfernt befinden, ist für sie nur das Werk eines Augenblicks. Fraget nur eure galanten Herren, ob es eine so leichte Sache ist, längere Zeit mit seinem Geschwätze vor einem solchen Widerspruchsgeiste zu prunken.
Das heißt aber noch gar nicht, daß sie sich etwa aus fremdem Lobe nichts mache, wenn dasselbe nur aufrichtig gemeint ist, und sie annehmen kann, daß man wirklich so gut von ihr denkt, als man ihr sagt. Wer es durchblicken lassen will, daß ihre Vorzüge Eindruck auf ihn gemacht haben, muß erst selbst
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