Emil oder Ueber die Erziehung
züchtig sein; sie hat es sich im Grunde ihres Herzens zugeschworen, und hat es in einer Zeit geschworen, wo sie schon ein Bewußtsein davon hatte, wie schwierig es ist, einen solchen Schwur zu halten; sie hat es sich zugeschworen, als sie sich gerade von einer solchen Verbindlichkeit hätte lossagen müssen, wäre ihre Sinnlichkeit danach angethan gewesen, die Herrschaft über sie zu gewinnen.
Sophie hat nicht das Glück, eine liebenswürdige Französin zu sein, die, kalt von Temperament und coquett aus Eitelkeit, mehr darauf ausgeht zu glänzen als zu gefallen, und mehr nach Zeitvertreib hascht als wahre Freude sucht. Nur das Bedürfniß zu lieben verzehrt sie; es drängt sich ihr auf und beunruhigt ihr Herz inmitten der Festlichkeiten. Ihr früherer Frohsinn ist von ihr gewichen; sie findet kein Vergnügen mehr an den ausgelassenen Spielen; statt von der Einsamkeit Langeweile zu befürchten, sucht sie dieselbe auf. Ihre Gedanken weilen hier bei dem, der sie ihr dereinst versüßen soll. Alle, die ihr gleichgiltig sind, belästigen sie. Sie sehnt sich nicht nach Anbetern, wol aber nach einem Geliebten. Sie möchte lieber einem einzigen braven Manne gefallen und ihm immer gefallen, als in den Ruf einer Modedame kommen, die doch nur einen Tag glänzt, um schon am nächsten Tage dem Hohngelächter Preis gegeben zu werden.
Das Urtheil der Frauen entwickelt sich weit früher als das der Männer. Da sie sich fast von Kindesbeinen anbeständig im Vertheidigungszustande verhalten müssen, und ihnen ein so schwer zu bewahrendes Gut anvertraut ist, so muß ihnen das Gute und Böse notwendigerweise früher bekannt sein. Da sich Sophie in Folge ihrer glücklichen Anlagen in jeder Beziehung zeitiger entwickelt hat, so hat sich auch ihr Urtheil früher als bei anderen Mädchen ihres Alters ausgebildet. Hierin liegt durchaus nichts Außerordentliches; die Reife tritt nicht überall in derselben Zeit ein.
Sophie ist über die Pflichten und Rechte ihres wie unseres Geschlechtes belehrt. Sie kennt die Fehler der Männer und die Laster der Frauen; aber sie kennt auch eben so gut die entgegengesetzten Eigenschaften und Tugenden und hat sie ihrem Herzen tief eingeprägt. Man kann unmöglich eine höhere Idee von einer sittsamen Frau haben, als die ist, welche sie sich gebildet hat, allein diese Idee vermag ihr keine Furcht einzujagen. Natürlich weilen ihre Gedanken mit größerem Wohlgefallen bei einem Ehrenmanne, einem Manne von Verdienst. Sie ist es sich bewußt, daß sie für einen solchen Mann geschaffen und seiner würdig ist, ist es sich bewußt, daß sie ihm dasselbe Glück zu bereiten im Stande ist, welches sie ihm verdanken wird. Sie fühlt es, daß sie ihn recht gut herausfinden wird, und daß es jetzt nur darauf ankommt, daß er sich zeige.
Die Frauen sind die natürlichen Richter über das Verdienst der Männer, wie Letztere es wieder umgekehrt über das der Frauen sind. Das beruht auf einem gegenseitigen Rechte, und beide Theile kennen es sehr wohl. Sophie ist mit diesem Rechte bekannt und macht von demselben Gebrauch, allein mit einer Bescheidenheit, wie sie ihrer Jugend, ihrer Unerfahrenheit und ihrer Stellung zukommt. Sie urtheilt nur über solche Dinge, die ihre Fassungskraft nicht übersteigen, und auch dann nur, wenn es zur Entwickelung irgend eines nützlichen Grundsatzes dienen kann. Von Abwesenden, namentlich wenn es Frauen sind, spricht sie nur mit äußerster Behutsamkeit. Sie hält sich überzeugt, daß es Frauen zur Schmäh- und Spottsucht führt, wenn sie über ihr eigenes Geschlecht sprechen. So lange sie sich darauf beschränken, das unserige zu ihrem Gesprächsthemazu wählen, werden sie stets billig denkend sein. Sophie bleibt deshalb in diesen Schranken. Spricht sie jedoch einmal über Frauen, so geschieht es nur, um alles Gute zu sagen, was sie von ihnen weiß. Sie glaubt ihrem Geschlechte diese Ehre schuldig zu sein. Weiß sie jedoch nichts Gutes zu sagen, so beobachtet sie über solche Frauen ein vollkommenes Stillschweigen, und das ist verständlich genug.
Sophie besitzt wenig Weltkenntniß; allein sie ist höflich und aufmerksam und entfaltet bei Allem, was sie thut, eine große Anmuth. Ihr glückliches Naturell kommt ihr besser zu Statten als alle Kunst. Sie hat eine gewisse Feinheit an sich, die sich nicht aus Regeln herleiten läßt, noch der Mode unterworfen ist, die mit der letzteren keinen Wechsel erleidet, noch Alles dem leidigen Herkommen zu Liebe thut, sondern ihre Quelle in dem
Weitere Kostenlose Bücher