Emil oder Ueber die Erziehung
sein.
Das junge Mädchen besaß außer dem Temperamente, welches ich Sophien so eben beilegte, auch im Uebrigen alle die nämlichen Eigenschaften, welche es dieses Namens würdig erscheinen lassen konnten, weshalb ich ihm denselben auch geben werde. Nach der berichteten Unterredung schickten die Eltern in der richtigen Erwägung, daß sich in dem Dörfchen, in welchem sie ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, keine passende Partie darbieten würde, Sophie nach der Stadt, um einen Winter bei einer Tante zuzubringen, welche man heimlich über den Zweck dieserReise in Kenntniß setzte, denn die hochherzige Sophie trug im Grunde ihres Herzens den edlen Stolz, sich selbst zu bezwingen, und wie sehr sie sich auch nach einem Gatten sehnte, so würde sie doch lieber als Jungfrau gestorben sein, als daß sie sich entschlossen hätte, sich selbst nach einem umzusehen.
Um den Absichten ihrer Eltern zu entsprechen, stellte ihre Tante sie in bekannten Familien vor, führte sie in die Gesellschaft ein, nahm mit ihr an Festlichkeiten Theil, zeigte ihr die Welt oder zeigte vielmehr sie der Welt, denn Sophie kümmerte sich um all dieses geräuschvolle Treiben äußerst wenig. Jedoch konnte man wahrnehmen, daß sie junge Männer von gefälligem Aeußern, deren Benehmen zugleich Anstand und Sittsamkeit verrieth, nicht floh. Gerade in ihrem zurückhaltenden Wesen lag eine gewisse Kunst, dieselben an sich zu ziehen, die fast einen Anstrich von Coquetterie hatte. Nachdem sie sich jedoch zwei- oder dreimal mit ihnen unterhalten, bewies sie ihnen gegenüber eine Art Abneigung. Bald vertauschte sie dieses anspruchsvolle Wesen, welches die Huldigungen gleichsam herauszufordern scheint, mit einem demüthigeren Benehmen und mit einer mehr zurückweisenden Höflichkeit. Fortwährend auf sich selbst aufmerksam, gab sie ihnen keine Gelegenheit mehr, ihr auch nur den geringsten Dienst zu erweisen. Darin lag deutlich genug für sie ausgedrückt, daß sie nicht Lust hätte, ihre Geliebte zu sein.
Nie haben gefühlvolle Herzen an lärmenden Vergnügungen Gefallen gefunden, an diesem eitlen und unfruchtbaren Glücke solcher Menschen, denen es an Gefühl fehlt und welche sich einbilden, sein Leben betäuben heiße es genießen. Als Sophie nicht fand, was sie suchte, und daran verzweifelte, es auf diesem Wege zu finden, langweilte sie sich in der Stadt. Sie liebte ihre Eltern zärtlich, und da sie nichts für die Trennung von ihnen zu entschädigen vermochte, da nichts im Stande war, ihr Bild aus ihrer Erinnerung auszulöschen, so kehrte sie lange vor dem zu ihrer Rückkehr bestimmten Zeitpunkte zu ihnen zurück.
Kaum hatte sie ihre Obliegenheiten im väterlichen Hause wieder aufgenommen, als man bemerkte, daß sich, obwolsie noch immer dasselbe Benehmen beobachtete, ihre Laune geändert hatte. Bald zeigte sie sich zerstreut und ungeduldig, bald war sie traurig und träumerisch, ja, sie verbarg sich auch wol, um zu weinen. Man gab sich Anfangs dem Glauben hin, sie liebe und schäme sich dessen. Als man jedoch mit ihr darüber sprach, stellte sie es vollständig in Abrede. Sie betheuerte, Niemanden gesehen zu haben, der im Stande gewesen wäre, Eindruck auf ihr Herz zu machen, und Sophie war keiner Lüge fähig.
Inzwischen nahm ihre Mattigkeit unaufhörlich zu, so daß ihre Gesundheit darunter zu leiden begann. Ihre Mutter, über diese Veränderung beunruhigt, entschloß sich endlich, nach der Ursache zu forschen. Sie sprach mit ihr unter vier Augen und schlug ihr gegenüber jenen gewinnenden Ton an, behandelte sie mit jener unwiderstehlichen Zärtlichkeit, welche nur Mutterliebe einzugeben vermag. »Liebe Tochter, du, die du unter meinem Herzen geruht hast und mir unablässig am Herzen liegst, schütte das Geheimniß des deinigen in den Busen deiner Mutter aus. Was wären das für Geheimnisse, die eine Mutter nicht wissen dürfte? Wer wird deinen Kummer beweinen, wer wird ihn mit dir theilen, wer wird ihn dir tragen helfen, wenn nicht Vater und Mutter? Ach, mein Kind, willst du, daß mich dein Kummer in die Grube bringt, ohne daß ich ihn erfahre?«
Weit davon entfernt, ihrer Mutter ihren Kummer verhehlen zu wollen, kannte sie vielmehr keinen höheren Wunsch, als in ihr eine Trösterin und Vertraute zu finden. Indeß hielt die Scham sie vom Reden ab, und ihr Zartgefühl fand keine Worte, um einen ihrer so wenig würdigen Zustand, wie die Aufregung, welche ihre Sinne ihr zum Trotz beunruhigte, zu beschreiben. Kurz, ihre Scham selbst diente der Mutter
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