Emil oder Ueber die Erziehung
ihrer Kindheit überläßt, dann sich plötzlich wieder besinnt, verstummt, die Augen niederschlägt und erröthet. Es ist doch wol in der Ordnung, daß die Grenzscheide zwischen beiden Lebensaltern ein wenig Antheil an jedem von beiden hat.
Sophie ist zu empfänglich für alle Eindrücke, nm eine stets gleichmäßige Laune bewahren zu können, aber sie besitzt zu viel Herzensgüte, um Andere darunter leiden zu lassen; ihr allein bereitet es manch trübe Stunde. Ein einziges verletzendes Wort reicht hin, ihr das Herz schwer zu machen, wenn sie ihre gedrückte Stimmung auch nicht zu erkennen gibt; sie wird suchen, sich der Gesellschaft zu entziehen, nur sich ausweinen zu können. Der Vater oder die Mutter braucht sie aber unter ihrem Thränenstrome nur zu rufen und ein einziges Wort zu sagen, so wird sie augenblicklich wieder erscheinen, um zu spielen und zu lachen, während sie geschickt die Augen trocknet und ihr Schluchzen zu unterdrücken sucht.
Nicht einmal von Eigensinn ist sie völlig frei. Wenn sie ihre Laune ein wenig auf die Spitze treibt, so artet dieselbe leicht in Trotz aus, und sie pflegt sich in solchen Augenblicken zu vergessen. Laßt ihr indeß nur Zeit, sich zu besinnen, und ihr werdet euch überzeugen, daß die Art und Weise, ihr Unrecht wieder gut zu machen, ihr fast als ein Vorzug angerechnet werden muß. Erhält sie Strafe, so ist sie fügsam und unterwürfig, und man erkennt, daß sie sich weniger über die Strafe als über ihren Fehler schämt. Sagt man ihr nichts, so wird sie trotzdem niemals verabsäumen, ihr Versehen selbst zu verbessern, und noch dazu mit solcher Offenheit und so großer Anmuth, daß es nicht möglich ist, ihr noch länger böse zu sein. In Gegenwart des niedrigsten Dieners würde sie den Boden küssen, ohne daß ihr diese Erniedrigung schwer würde.und sobald sie Verzeihung erhalten hat, legen ihre Freude und ihre Liebkosungen an den Tag, von welcher Last sich ihr gutes Herz befreit fühlt. Mit einem Worte, sie erträgt mit Geduld das ihr zugefügte Unrecht und macht ihre eigenen Versehen mit Freuden wieder gut. In solcher Weise äußert sich der liebenswürdige Charakter ihres Geschlechts, bevor wir ihn verdorben haben. Das Weib hat die Bestimmung, gegen den Mann nachgiebig zu sein und sogar seine Ungerechtigkeit zu ertragen. Dahin werdet ihr nie einen Knaben bringen; sein inneres Gefühl erhebt und empört sich gegen die Ungerechtigkeit. Die Natur hat ihn nicht dazu bestimmt, es zu ertragen:
Gravem Pelidae stomachum cedere nescii. [18]
Sophie besitzt Religion, aber eine vernünftige und einfache Religion, die sich in wenige Glaubenssätze zusammenfassen läßt und noch weniger Andachtsübungen verlangt; oder sie widmet vielmehr, da ihr die Pflege der Moral als die hauptsächlichste Uebung erscheint, ihr ganzes Leben dem Dienste Gottes, indem sie sich nur Gutes zu thun bemüht. Aller Unterricht, den ihr ihre Eltern über diesen Punkt ertheilten, zielte darauf hin, sie an eine achtungsvolle Unterwerfung zu gewöhnen, indem sie ihr beständig wiederholten: »Meine Tochter, diese Kenntnisse eignen sich nicht für dein Alter; dein Mann wird dich darüber belehren, sobald es an der Zeit sein wird.« Anstatt ihr übrigens lange Reden über die Frömmigkeit zu halten, lassen sie es dabei bewenden, sie ihr durch ihr eigenes Beispiel zu predigen, und dieses Beispiel ist ihr tief ins Herz gegraben.
Sophie liebt die Tugend; diese Liebe ist förmlich zur herrschenden Leidenschaft geworden. Sie liebt sie, weil es für sie nichts Schöneres als die Tugend gibt. Sie liebt sie, weil in der Tugend der Ruhm des Weibes besteht, und weil ihr eine tugendhafte Frau fast den Engeln gleich erscheint. Sie liebt sie als den einzigen Weg zum wahren Glücke, und weil ihr das Leben eines sittenlosen Weibesnur wie eine ununterbrochene Kette von Elend, Hilflosigkeit, Unglück, Schmach und Schande vorkommt. Sie liebt sie endlich noch um deswillen, weil dieselbe ihrem von ihr so hochgeachteten Vater und ihrer so zärtlichen und würdigen Mutter theuer ist. Nicht zufrieden damit, durch ihre eigene Tugend glücklich zu sein, wünschen die Eltern, es auch durch die ihrer Tochter zu werden, und das Hauptglück Letzterer wurzelt wieder in der Hoffnung, zu dem Glücke der Eltern beitragen zu können. Alle diese Gefühle erfüllen sie mit einer Begeisterung, die ihre Seele erhebt, und alle ihre kleinen Neigungen einer so edelen Leidenschaft unterordnet. Bis zu ihrem letzten Athemzuge wird Sophie keusch und
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