Emil oder Ueber die Erziehung
vermochte sie dieses Räthsel nicht zu lösen. Aus einigen Fragen und sehr dunkel gehaltenen Antwortenmerkt sie endlich zu ihrem leicht begreiflichen Erstaunen, daß ihre Tochter die Nebenbuhlerin der Eucharis ist. Sophie liebte Telemach und liebte ihn noch dazu mit unheilbarer Leidenschaft. Als ihr Vater und ihre Mutter ihre wunderliche Neigung erfuhren, lachten sie darüber und glaubten sie wieder zur Vernunft bringen zu können. Sie irrten sich jedoch. Das Recht stand nicht ganz auf ihrer Seite; Sophie hatte ebenfalls Recht und verstand das ihrige zur Geltung zu bringen. Wie oft vermochten ihr die Eltern nichts zu erwidern, wenn sie sich auf deren eigene Gründe berief und ihnen bewies, daß sie selber die Schuld an all diesem Unheil trügen, weil sie sie nicht für einen Mann ihres Jahrhunderts erzogen hätten; wenn sie ihnen den Nachweis führte, daß sie nothwendig die Denkweise ihres Gatten annehmen oder ihn zu der ihrigen würde bekehren müssen, daß ihr die Eltern Ersteres durch die Art ihrer Erziehung unmöglich gemacht hätten, Letzteres aber genau das wäre, wonach sie strebte. »Gebt mir,« sagte sie, »einen Mann, welcher von meinen Grundsätzen durchdrungen ist, oder den ich für dieselben erwärmen kann, und ich werde ihn heirathen. Weshalb wollt ihr mir aber bis dahin böse sein? Bedauert mich. Obgleich ich unglücklich bin, so bin ich deswegen doch noch keine Närrin. Hängt das Herz vom Willen ab? Hast du, lieber Vater, dies nicht selbst geläugnet? Ist es meine Schuld, wenn ich etwas liebe, was nicht vorhanden ist? Ich bin keine Phantastin; ich will keinen Fürsten, suche keinen Telemach. Ich weiß, daß er nur ein Gebild der Dichtung ist. Allein ich suche Jemand, der ihm gleicht. Und weshalb sollte es einen solchen Mann nicht geben, da ich doch im Dasein bin, ich, die ich es deutlich fühle, daß mein Herz dem seinigen so ähnlich ist? Nein, laßt uns die Menschheit nicht in so hohem Grade entehren, laßt uns nicht dem Wahne huldigen, daß ein liebenswürdiger und tugendhafter Mann nur der Traumwelt angehöre! Er existirt, er lebt, er sucht mich vielleicht, sucht eine Seele, die er lieben kann. Aber wer ist er? Wo ist er? Ich weiß es nicht. In dem Kreise derer, welche ich gesehen habe, ist er nicht zu finden; ohne Zweifel wird er auch unter denennicht sein, die mir noch vor Augen kommen werden. O, meine Mutter, weshalb hast du mich mit solcher Liebe zur Tugend erfüllt? Wenn ich nur sie zu lieben vermag, dann ist mein Unrecht geringer als das eurige.«
Soll ich etwa diese traurige Erzählung bis zur Katastrophe fortführen? Soll ich die langen Zwistigkeiten mittheilen, welche ihr vorausgingen? Soll ich schildern, wie die Mutter die Geduld verliert und sich ihre frühere freundliche Begegnung der Tochter in Strenge verkehrt? Soll ich beschreiben, wie der Vater allmählich in Zorn geräth, seine früheren Versprechen vergißt und die tugendhafteste aller Töchter wie eine Ueberspannte behandelt? Soll ich euch endlich eine Schilderung der Unglücklichen selbst entwerfen, die sich um der Verfolgung willen, welcher sie sich ihres Traumbildes wegen ausgesetzt sieht, nur um so inniger der Liebe zu demselben überläßt, während sie langsamen Schrittes dem Tode entgegengeht und in dem Augenblicke in das Grab sinkt, in welchem man sie vor den Altar zu schleppen beabsichtigt? Nein, ich will dieses traurige Bild nicht weiter ausmalen. Ich brauche nicht so weit zu gehen, um an einem, meinem Dafürhalten nach, hinreichend schlagenden Beispiele nachzuweisen, daß trotz der Vorurtheile, welche ein Ausfluß der Sitten unseres Jahrhunderts sind, die Frauen von der Begeisterung für das Sittliche und Schöne nicht weniger ergriffen werden als die Männer, und daß es nichts gibt, was man unter der Leitung der Natur von ihnen nicht eben so gut erlangen könne als von uns Männern.
Man wird mich hier vielleicht unterbrechen, um mir die Frage vorzulegen, ob es denn die Natur ist, welche uns befiehlt, so viele Mühe anzuwenden, um ein übermäßiges sinnliches Verlangen zu unterdrücken. Ich sage hieraus: Nein, behaupte aber zugleich, daß es eben so wenig die Natur ist, welche uns ein so übermäßiges Verlangen einpflanzt. Alles, was nicht in ihr wurzelt, läuft ihr zuwider; ich habe dies tausendmal erfahren.
Laßt uns nun zu unseres Emils Sophie zurückkehren. Beschäftigen wir uns von Neuem mit diesem liebenswürdigen Mädchen, um zu sehen, daß sie eine weniger lebhafteEinbildungskraft besitzt, und daß ein
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