Emil oder Ueber die Erziehung
als Anzeichen, und so gelang es derselben denn, ihr jenes demüthigende Geständniß zu entreißen. Statt sie durch ungerechte Vorwürfe zu tränken, tröstete sie Sophie, beklagte sie und weinte mit ihr. Sie war zu verständig, ihr ein Uebel, welches doch nur in Folge ihrer Tugend so schmerzlich auftrat, als Verbrechen anzurechnen. Weshalb aber unnöthigerweise ein Uebeltragen, für welches es ein so leichtes und erlaubtes Heilmittel gibt? Weshalb machte sie keinen Gebrauch von der Freiheit, welche man ihr eingeräumt hatte? Weshalb nahm sie keinen Bewerber als Gatten an? Weshalb wählte sie keinen? War es ihr denn nicht bekannt, daß ihr Schicksal nur von ihr allein abhing, und daß ihre Wahl, wie sie auch immer ausfallen mochte, genehmigt worden wäre, da sie nur eine passende treffen konnte? In der Stadt, nach welcher man sie geschickt, hatte sie nicht bleiben wollen. Mehrere Partien hatten sich ihr dargeboten, aber sie hatte sie alle ausgeschlagen. Worauf wartete sie also? Was wollte sie eigentlich? Welch unlösbarer Widerspruch!
Die Antwort war einfach. Hatte es sich nur um einen Nothhelfer für die Jugend gehandelt, so wäre die Wahl bald getroffen worden; aber es ist gar nicht so leicht, sich einen Herrn für das ganze Leben zu wählen, und da sich diese beiden Wahlen nun einmal nicht von einander trennen lassen, so muß man wol warten und oft seine Jugend verlieren, ehe man den Mann findet, an dessen Seite man seine Lebenstage zubringen will. In dieser Lage befand sich Sophie. Sie bedurfte eines Geliebten, aber dieser Geliebte sollte gleichzeitig ihr Gatte sein, und in Hinblick aus das Herz, welches das ihrige allein zu befriedigen vermochte, war der Eine fast eben so schwer zu finden als der Andere. Alle jene so blühenden Jünglinge hatten nur das für sie passende Alter, alle übrige Eigenschaften aber, welche sie hätten als eine passende Partie erscheinen lassen können, fehlten ihnen. Ihr oberflächlicher Geist, ihre Eitelkeit, ihre Ausdrucksweise, ihre lockeren Sitten, ihre leichtfertigen Nachäffereien flößten ihr Widerwillen gegen dieselben ein. Sie suchte einen Mann und fand nur Affen; sie suchte ein Herz und fand keins.
»Wie unglücklich bin ich!« sagte sie zu ihrer Mutter; »es ist für mich ein Bedürfniß, zu lieben, und ich sehe nichts, was mir gefällt. Mein Herz stößt mich von Allen zurück, zu welchen mich meine Sinne hinziehen. Ich sehe nicht Einen, der nicht mein sinnliches Verlangen erregt;und nicht Einen, der es nicht bald wieder unterdrückt. Eine Neigung, die sich nicht auf Achtung gründet, kann keinen Bestand haben. Ach, unter ihnen befindet sich nicht der Mann, den deine Sophie braucht! Sein reizendes Bild schwebt mir schon lange vor der Seele. Nur ihn kann ich lieben, nur ihn kann ich glücklich machen, nur mit ihm allein kann ich glücklich werden. Lieber will ich mich im unaufhörlichen Kampfe verzehren, lieber will ich unglücklich und unvermählt sterben, als voller Verzweiflung an der Seite eines Mannes, welchen ich nicht zu lieben vermöchte und nur unglücklich machen würde. Besser ist es, nicht mehr zu leben, als nur zu leben, um zu leiden.«
Ueber diese eigentümlichen Anschauungen betroffen, fand sie ihre Mutter zu sonderbar, um nicht dahinter ein Geheimniß zu vermuthen. Sophie war weder geziert noch lächerlich. Wie ließ sich nun dieses überspannte Zartgefühl bei ihr erklären, bei ihr, die man von Kindheit an zu nichts so sehr angehalten hatte als dazu, sich in die Leute zu schicken, mit welchen sie zu leben hatte, und aus der Noth eine Tugend zu machen? Dies Musterbild eines liebenswürdigen Mannes, von welchem sie so bezaubert war, und welches in allen ihren Unterhaltungen immer wieder auftauchte, brachte ihre Mutter auf die Vermuthung, daß diese Laune irgend einen anderen ihr unbekannten Grund haben mußte, und daß Sophiens Bekenntniß nicht vollständig gewesen war. Die Aermste, ihrem geheimen Kummer fast unterliegend, trachtete nur danach, ihr Herz auszuschütten. Als die Mutter in sie dringt, zaudert sie zwar Anfangs, aber endlich ergibt sie sich, geht, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und kehrt einen Augenblick später mit einem Buche in der Hand zurück. »Beklage deine unglückliche Tochter; ihr Schmerz ist unheilbar, ihre Thränen können nicht versiegen. Du verlangst die Ursache zu erfahren. Nun wohl, da ist sie!« Mit diesen Worten wirft sie ein Buch auf den Tisch. Die Mutter nimmt es und schlägt es auf: es waren Telemachs Abenteuer. Anfangs
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