Emil oder Ueber die Erziehung
sich im Besitze aller Güter der Erde befänden, während ihre Herzen dabei durch Zwietracht vergiftet wären.
Statt also für meinen Emil schon von Kindheit an eine Gattin zu bestimmen, habe ich so lange gewartet, bis ich die kennen lernte, welche sich für ihn eignet. Diese Bestimmung geht also nicht von mir, sondern von der Natur aus. Meine Aufgabe besteht nur darin, die Wahl zu finden, die sie getroffen hat. Meine Aufgabe, wiederhole ich noch einmal, nicht die des Vaters; denn als er mir seinen Sohn anvertraute, hat er mich in seine Stelle, in seine Rechte treten lassen. Ich bin im wahren Sinne Emils Vater, da ich ihn erst zum Menschen gemacht habe. Ich würde es abgelehnt haben, seine Erziehung zu übernehmen, wenn man mir nicht das Recht eingeräumt hätte, ihn nach seiner eigenen, d. h. nach meiner Wahl, verheirathen zu können. Nur die Freude, das Glück eines Menschen zu begründen, vermag uns für die Mühe zu entschädigen, die wir haben anwenden müssen, um ihn in den Stand zu setzen, es zu werden.
Glaubt aber eben so wenig, daß ich etwa so lange gezögert habe, eine Gemahlin für Emil zu finden, bis ich ihn aufforderte, sie zu suchen. Dies vorgebliche Suchen dient nur als Vorwand, um ihm Gelegenheit zu verschaffen, die Frauen kennen zu lernen, damit er den Werth derjenigen, die sich für ihn eignet, empfinden kann. Sophie ist längst gefunden; vielleicht hat Emil sie bereits gesehen, aber er wird sie erst wiedererkennen, wenn es an der Zeit ist.
Obwol die Gleichheit des Standes für die Ehe nicht unumgänglich erforderlich ist, so verleiht sie doch, wenn die übrigen Verhältnisse angemessen sind, diesen einen neuen Werth. Während sie hinter allen übrigenzurückstehen muß, neigt sie doch die Wageschale zu ihrem eigenen Gunsten, sobald alles Uebrige gleich ist.
Ein Mann kann, wofern er nicht Monarch ist, sich seine Gattin nicht aus jedem Stande wählen; denn die Vorurtheile, von denen er sich frei zu halten gewußt hat, wird er doch bei den Anderen vorfinden. So wäre es leicht möglich, daß manches Mädchen für ihn passen würde, welches er deshalb doch nicht erhielte. Es gibt also Grundsätze der Klugheit, welche einem vernünftigen Vater bei seiner Wahl die richtigen Schranken bezeichnen müssen. Er darf nicht darauf ausgehen, sein Kind über seinen Stand zu verheirathen, denn das steht nicht in seinem Belieben. Und wenn es ihm möglich wäre, so sollte er es nicht einmal wollen; denn was kümmert sich ein junger Mann, wenigstens der meinige, wol um den Rang? Und wenn er sich trotzdem über seinen Stand erhebt, so sieht er sich tausend wirklichen Uebeln ausgesetzt, welche sich ihm zeitlebens fühlbar machen werden. Ich sage sogar, daß er nicht einmal die Absicht hegen darf, Güter verschiedener Natur, wie Adel und Geld, als Ausgleichungsmittel zu benutzen, weil jedes von beiden den Werth des andern weit weniger erhöht, als es von ihm Einbuße erleidet. Ich behaupte ferner, daß man bei einer gemeinsamen Schätzung nie einig werden wird, und endlich, daß der höhere Werth, den Jeder dem Gute, das er einsetzt, beilegt, Unfrieden zwischen zwei Familien und oft sogar zwischen zwei Eheleuten stiftet.
In Bezug auf die ehelichen Verhältnisse macht es einen großen Unterschied aus, ob der Mann über oder unter seinen Stand heirathet. Der erste Fall widerstreitet durchaus der Vernunft, der zweite läßt sich eher mit ihr in Einklang bringen. Da die Familie nur durch ihr Haupt eine Stelle in der Gesellschaft behauptet, so richtet sich die Stellung der ganzen Familie nach der des Familienhauptes. Nimmt der Mann sich ein Weib aus niederem Stande, so steigt er damit nicht herab, sondern hebt seine Gattin zu dem seinigen empor. Wählt er sich dagegen seine Lebensgefährtin aus einem höheren Stande, so zieht er sie herab, ohne sich zu erhöhen. Demnach wird ihm im ersterenFalle ein Vortheil zu Theil, ohne daß er gleichzeitig einen Nachtheil erleidet, während ihm der zweite Fall nur Nachtheil ohne einen denselben wieder aufwiegenden Vortheil bringt. Ferner liegt es in der Ordnung der Natur, daß die Frau dem Manne gehorche. Heirathet er also in einen niedrigeren Stand hinein, so sind die natürliche und bürgerliche Ordnung in voller Übereinstimmung, und Alles geht gut. Dagegen stehen sie im offenen Widerspruche zu einander, wenn er eine Frau aus höherem Stande heimführt und sich dadurch in die Alternative versetzt sieht, entweder sein Recht zu beeinträchtigen oder gegen die Dankbarkeit zu
Weitere Kostenlose Bücher