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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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glücklicheres Loos ihrer wartet. Ich beabsichtigte eine gewöhnliche Frau zu schildern, aber indem ich ihrer Seele einen größeren Adel verlieh, habe ich ihre Vernunft verwirrt. Ich selbst habe einen Irrthum begangen. Laßt uns wieder einlenken. Sophie hat nur ein gutes Gemüth in einer gewöhnlichen Seele. Alles, was sie vor anderen Frauen voraus hat, ist das Ergebniß ihrer Erziehung.

    Ich habe mir die Aufgabe gestellt, in diesem Buche Alles zu sagen, was überhaupt ausführbar ist, indem ich es dem freien Ermessen eines Jeden überlasse, unter dem dargebotenen Guten sich das herauszuwählen, was sich für ihn am meisten eignet. Schon von Anfang an hatte ich mein Augenmerk darauf gerichtet, frühzeitig Emils Gefährtin heranzubilden und sie für einander und mit einander zu erziehen. Allein nach reiflicherer Ueberlegung bin ich zu der Einsicht gelangt, daß alle dergleichen allzu frühzeitigen Maßregeln unzweckmäßig sind, und daß es thöricht ist, zwei Kinder zur Vereinigung mit einander zu bestimmen, bevor sich erkennen läßt, ob diese Vereinigung mit der Ordnung der Natur in Einklang steht, und ob ihre gegenseitigen Verhältnisse der Schließung eines solchen Bundes günstig sind. Man darf nicht verwechseln, was im wilden Zustande natürlich ist, und was im Zustande unserer bürgerlichen Gesellschaft. Im ersteren Zustande paßt jede Frau für jeden Mann, weil sich beide Theile noch das ursprüngliche gemeinsame Wesen erhalten haben. Im zweiten jedoch, wo die Entwickelung jedes Charakters unter der Einwirkung der socialen Einrichtungen vor sich geht, und jeder Geist nicht nur in Folge der Erziehung, sondern auch vermittelst eines gut oder schlecht geleiteten Zusammentreffens der natürlichen Begabung mit der Erziehung seine eigenthümliche und bestimmte Form erhalten hat, kann man erst dann daran denken, sie zu vereinigen, wenn man sie mit einander bekannt gemacht hat, um sich zu überzeugen, ob sie auch in jeder Hinsicht für einanderpassen, ober um wenigstens diejenige Wahl treffen zu können, welche in den meisten Punkten passend erscheint.
    Ein Uebelstand ist es nun, daß der gesellschaftliche Zustand bei der Entwickelung der Charaktere auf die Rangunterschiede Rücksicht nimmt, und daß man, da jene beiden Zustände einander so unähnlich sind, auf die Charaktere um so verderblicher einwirkt, je größere Unterschiede man in die Verhältnisse hineinträgt. Davon schreiben sich die unpassenden Ehen und die daraus hervorgehende Sittenlosigkeit her. Hieraus kann man die klare Folgerung ziehen, daß sich die natürlichen Gefühle um so mehr abstumpfen, je mehr man sich von der Gleichheit entfernt. Je mehr sich die Kluft zwischen Hohen und Niedrigen erweitert, desto mehr lockert sich das eheliche Band. Je mehr Reiche und Arme es gibt, desto weniger Väter und Gatten gibt es. Weder Herr noch Sklave haben eine Familie mehr, Jeder von Beiden hat nur seinen eigenen Stand im Auge.
    Wollt ihr diesem Uebelstande abhelfen und dazu beitragen, daß die Ehen glücklich werden, so erstickt die Vorurtheile, vergeßt die menschlichen Einrichtungen und fragt die Natur um Rath. Vereinigt nicht Leute, die nur in Bezug auf Rang und Stellung zu einander passen, die aber in keiner Hinsicht mehr zu einander passen, sobald ihre gesellschaftliche Stellung eine Aenderung erleidet. Verbindet vielmehr solche Personen mit einander, die sich in jeglicher Lebenslage, in jedem Lande, in welchem sie ihren Wohnsitz aufschlagen mögen, in jeder gesellschaftlichen Stellung, in die sie eintreten mögen, in gegenseitiger Liebe zu einander hingezogen fühlen. Ich behaupte keineswegs, daß die conventionellen Verhältnisse für die Ehe gleichgiltig sind, aber so viel behaupte ich, daß der Einfluß der natürlichen Verhältnisse sie in so hohem Grade überwiegt, daß er allein über das Geschick des Lebens entscheidet, und daß es eine Übereinstimmung der Neigungen, Temperamente, Gefühle und Charaktere gibt, welche einen verständigen Vater, und möge er Prinz oder Monarch sein, bestimmen müßte, seinem Sohne ohne Schwanken das Mädchen zu geben, mit welchem er in allen diesen Punktenharmonirte, und wenn der Vater desselben auch eine unehrliche Hantierung betriebe, wenn er selbst der Henker wäre. Ja, ich behaupte, daß zwei Gatten, deren Bereinigung nach diesen Gesichtspunkten stattfand, selbst dann, wenn sie allem erdenkbaren Unglück ausgesetzt wären, in ihrer gemeinsamen Trauer ein wahrhafteres Glück genießen würden, als wenn sie

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