Emil oder Ueber die Erziehung
räumen den Müttern nicht die gebührende Gewalt ein. Gleichwol ist die Mutterschaft unbestrittener als die Vaterschaft; die Pflichten der Mütter sind mühseliger, ihre Sorgen und Mühwaltungen sind von höherem Gewicht für den geordneten Zustand der Familie; überhaupt haben sie mehr Zuneigung zu den Kindern. Es gibt Umstände, um derenwillen ein Sohn, der es an Ehrfurcht vor seinem Vater fehlen läßt, einigermaßen zu entschuldigen ist; wenn aber ein Kind, aus was für Veranlassung auch immer, so entartet wäre, seiner Mutter gegenüber die Ehrfurcht zu verläugnen, ihr, die es unter ihrem Herzen getragen, die es mit ihrer Milch genährt, die sich Jahre lang nur aus Sorge für dasselbe selbst vergessen hat: ein solches verworfenes Wesen sollte man schleunigst ersticken, wie ein Ungeheuer, unwürdig das Tageslicht zu sehen. Die Mütter verziehen, wie man sagt, ihre Kinder. Darin haben sie ohne Zweifel Unrecht, aber vielleicht in nicht so hohem Grade als ihr, die ihr sie verderbt. Die Mutter will ihr Kind glücklich sehen, will es sogleich glücklich sehen. Darin hat sie Recht: wenn sie sich in der Wahl der Mittel irrt, muß man sie belehren. Der Ehrgeiz, die Habsucht, die Tyrannei, die falsche Vorsorge der Väter, ihre Nachlässigkeit, ihre harte Gefühllosigkeit sind den Kindern hundert Mal unheilvoller als die blinde Zärtlichkeit der Mütter. Uebrigens bleibt mir noch zu erläutern übrig, welchen Sinn ich dem Namen Mutter beilege; und das soll weiter unten geschehen.
[2] Man versichert mir, Herr Formey, habe sich eingebildet, ich wollte hier von meiner Mutter reden, und habe dies in einem seiner Werke ausgesprochen. Das heißt denn doch mit Herrn Formey, oder mir einen grausamen Scherz treiben.
[3] Aeußerlich ihnen gleich, und der Sprache sowie der Ideen, welche dieselbe ausdrückt, beraubt, würde er außer Stande sein, ihnen das Bedürfniß ihrer Hilfe verständlich zu machen, und nichts an ihm würde ihnen dies Bedürfniß kund thun.
[4] Herr Petitain bemerkt, daß sich diese Idee einer dreifachen Erziehung im Plutarch »Ueber die Erziehung der Kinder«, Kap. 4 wiederfindet.
[5] Herr Formey versichert uns, daß man dies nicht mit solcher Bestimmtheit behauptet. Trotzdem scheint es mir in dem folgenden Verse, auf welchen ich mir zu antworten vornahm, auf das allerbestimmteste ausgesprochen:
»Natur, glaub’ mir, ist lediglich Gewohnheit.«
Herr Formey, welcher seine Mitmenschen nicht stolz machen will, gibt uns bescheidener Weise den Maßstab seines eigenen Gehirns statt dessen der menschlichen Vernunft.
[6] Deswegen sind auch die Kriege der Republiken grausamer als die der Monarchien. Wenn aber der Krieg der Könige gemäßigt ist, so ist ihr Friede schrecklich: es ist besser ihr Feind als ihr Unterthan zu sein.
[7] Plut. dict. not. des Lacéd. §. 60.
[8] Id. ibid. §. 5.
[9] Es gibt an mehreren Schulen, und namentlich an der Pariser Universität Professoren, welche ich liebe, welche ich hochachte und welche ich für sehr befähigt halte, der Jugend einen vortrefflichen Unterricht zu ertheilen, wenn sie nicht genöthigt würden, sich dem leidigen Herkommen anzuschließen. Ich fordere einen von ihnen hiermit auf, das Reformproject, welches er verfaßt hat, zu veröffentlichen. Man wird sich doch vielleicht endlich versucht fühlen, dem Nebel abzuhelfen, wenn man erst zur Einsicht gelangt ist, daß es Heilmittel gibt.
[10] Qui se totam ad vitam instruxit, non desiderat particulatim admoneri, doctus in totum, non quomodo cum uxore aut cum filiis viveret, set quomodo bene viveret. Senec. ep. 94.
[11] Cic. Tuscul. V. cap. 6
[12] Longa est vita, si plena est. Impletur autem cum animus sibi bonum suum reddidit, et ad se potestatem sui transtulit. Quid illum octoginta anni iuvant per inertiam exacti? Non vixit ille, sed in vita moratus est… Actu illam metiamur, non tempore! Seneca, Ep. 93.
[13] Buffons Histor. natur. Bd. IV.
[14] Vgl. die 2. Anmerkung auf S. 58.
[15] Der eigenthümliche Bund der Frauen und Aerzte ist mir immer als eine der auffallendsten Sonderbarkeiten von Paris vorgekommen. Den Frauen verdanken die Aerzte ihren Ruf und durch die Aerzte setzen die Frauen ihrerseits ihre Wünsche durch. Es läßt sich daraus leicht schließen, was für eine Art Geschicklichkeit ein Pariser Arzt bedarf, um seinen Ruhm zu begründen.
[16] Hierbei muß bemerkt werden, daß ein Jahr vor Veröffentlichung des Emil ein berühmter Arzt, Desessarts, eine Abhandlung über die körperliche Erziehung
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