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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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stillsten waren, später, wenn sie einmal anfangen ihre Stimme zu erheben, den meisten Lärm. Wollte ich aber auf alle diese Einzelheiten näher eingehen, würde ich kein Ende finden. Jeder verständige Leser muß einsehen, daß jedem Zuviel wie jedem Zuwenig, die sich ja beide von demselben Fehler herleiten durch meine Methode in gleicher Weise abgeholfen wird. Ich betrachte die beiden Grundsätze »Immer genug« und »Niemals zu viel« für untrennbar. Wird der erstere richtig angewandt, so ergibt sich der andere daraus mit Notwendigkeit.

Zweites Buch.
    Mit Beginn der zweiten Lebensperiode, in welche jetzt das Kind eintritt, hat eigentlich die Kindheit schon ihr Ende erreicht, denn die Wörter infans und puer sind nicht gleichbedeutend. Das erstere ist unter dem zweiten mit einbegriffen und bedeutet ein Kind, welches noch nicht sprechen kann, weshalb auch der Ausdruck des Valerius Maximus » puer infans « seine volle Berechtigung hat. Allein ich werde mich unserem Sprachgebrauche anschließen und mich des Wortes Kindheit nach wie vor bis zu dem Lebensalter bedienen, für welches unsere Sprache bezeichnendere Benennungen hat.
    Wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger. Dieser Fortschritt ist natürlich; eine Sprache verdrängt die andere. Warum sollten sie wohl, wenn sie mit Worten auszudrücken vermögen, daß sie leiden, zum Schreien ihre Zuflucht nehmen, falls ihre Schmerzen nicht zu heftig sind, als daß sie sich durch Worte ausdrücken lassen? Fahren sie dann doch noch zu weinen fort, so liegt die Schuld an den Personen ihrer Umgebung. Hat Emil erst einmal gesagt: »Mir ist unwohl«, so werden ihm fortan nur die heftigsten Schmerzen Thränen auszupressen im Stande sein.
    Wenn das Kind schwächlich und empfindlich ist, so daß es von Natur um nichts in Geschrei ausbricht, so suche ich diese ewige Thränenquelle dadurch zu verstopfen, daß ich es sich vergeblich abschreien lasse. So lange es weint, gehe ich unter keinen Umständen zu ihm; ich eile aber zu ihm, sobald es sich beruhigt hat. Bald wird es sein Betragen ändern und mich durch Schweigen oder höchstens dadurch rufen, daß es einen einzigen Schrei ausstößt. Nur nach der wahrnehmbaren Wirkung beurtheilen die Kinder die Bedeutung der Zeichen, für sie gibt es keine andere Art und Weise. Mag sich ein Kind noch so wehe thun, so wird es doch, wenn es allein ist und keine Hoffnung hat gehört zu werden, in höchst seltenen Fällen weinen.
    Wenn es fällt, sich den Kopf stößt, Nasenbluten bekommtoder sich in die Finger schneidet, werde ich ihm durchaus nicht mit bestürzter Miene sofort zu Hilfe eilen, sondern mich wenigstens eine Zeit lang ruhig verhalten. Das Uebel ist einmal geschehen, das Kind muß den Schmerz aushalten; all mein Eifer würde nur dazu dienen, es noch mehr zu erschrecken und seine Empfindlichkeit zu vermehren. Im Grunde genommen wird der Schmerz, den man bei einer Verletzung empfindet, weniger von der Wunde als von der Furcht erregt, die uns der Anblick derselben einflößt. Diese letztere Bangigkeit werde ich ihm wenigstens ersparen; denn sicherlich wird es sich in der Beurtheilung seines Schadens nach mir richten. Sieht es mich unruhig herbei eilen, um es zu trösten und es zu beklagen, so wird es sich für verloren halten; sieht es mich dagegen meine Kaltblütigkeit bewahren, so wird es auch die seinige bald wieder gewinnen und den Schaden für geheilt halten, sobald es den Schmerz nicht mehr empfindet. Unter solchen Erfahrungen entwickelt sich schon in diesem Alter in der Brust des Kindes Muth und Unerschrockenheit; durch furchtloses Ertragen leichterer Schmerzen lernt man stufenweise auch die großen ertragen.
    Weit entfernt, meinen Emil sorgfältig vor jeder Verletzung, die er sich zufügen könnte, zu behüten, würde es mir vielmehr höchst unlieb sein, wenn er sich niemals wehe thäte und aufwüchse, ohne den Schmerz kennen zu lernen. Leiden und dulden ist das Erste, was er lernen muß, und was zu verstehen ihm am nöthigsten sein wird. Es hat fast den Anschein, als ob die Kinder nur klein und schwach wären, um diesen wichtigen Unterricht ohne Gefahr erhalten zu können. Fällt das Kind der ganzen Länge nach hin, so bricht es sich doch nicht das Bein; schlägt es sich mit einem Stocke, so bricht es sich doch nicht den Arm, greift es nach einem scharfen Messer, so packt es doch nicht fest zu und verwundet sich deshalb auch nicht tief. Mir ist kein Beispiel bekannt, daß man je ein sich selbst überlassenes

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