Emil oder Ueber die Erziehung
Weiter unten wird man sehen, daß mein Emil an dergleichen Fehlern nicht zu leiden hat oder daß sie wenigstens nicht von denselben Ursachen hervorgerufen sind.
Ich gebe zu, daß das niedere Volk und die Landleute in den entgegengesetzten Fehler verfallen. Sie sprechen fast immer lauter als nöthig ist, ihre Sprache klingt in Folge ihrer zu übertriebenen Articulation hart und barsch, sie betonen zu viel Wörter und sind in der Wahl derselben nicht sehr glücklich u.s.w.
Aber zunächst erscheint mir dieser Fehler verzeihlicher als der andere, da, wenn das erste Gesetz jeder Rede die allgemeine Verständlichkeit derselben ist, jedenfalls der größte Fehler, den man begehen kann, darin besteht, unverständlich zu reden. Wer darauf ausgeht, ohne alle Betonung zu reden, geht damit zugleich darauf aus, die Rede ihrer Anmuth und ihrer Kraft zu entkleiden. Der Ton ist die Seele der Rede, er gibt ihr das Gefühl und die Wahrheit. Der Ton lügt weniger als das Wort; eben deshalb scheuen ihn vielleicht die Leute von sogenannter guter Erziehung in so hohem Grade. Aus dieser Gewohnheit, Alles in gleichem Tone zu sagen, ist die Unsitte hervorgegangen, sich über die Leute, ohne daß sie es merken, lustig zu machen. An Stelle der verschmähten Betonung treten allerlei völlig lächerliche, gezierte und der Mode unterworfene Manieren der Aussprache, wie man sie besonders bei den jungen Hofleuten wahrnehmen kann. Gerade dieses gezierte Wesen in Worten und in der Haltung, macht uns Franzosen anfangs den fremden Völkern so unleidlich und unangenehm. Den wahren Sinn unserer Worte verräth leichter unser Mienenspiel als unsere Rede. Das ist nicht das Mittel, eine günstige Meinung für sich hervorzurufen.
Alle diese kleinen Sprachmängel, die man von den Kindern so ängstlich fern zu halten sucht, sind unwesentlich; man beugt ihnen mit der größten Leichtigkeit vor oder stellt sie eben so leicht wieder ab; allein diejenigen, an derenAngewöhnung man selber die Schuld trägt, weil man ihnen leise, undeutlich und mit ängstlicher Stimme zu reden gestattete, ihren Ton unaufhörlich bekrittelte und an allen ihren Worten etwas auszusetzen hatte, vermag man nie wieder abzulegen. Wer nur im Umgange mit Damen sprechen gelernt hat, wird vor der Front eines Bataillons kein kräftiges Commandowort erschallen lassen können, und dem Pöbel bei einem Aufruhr keine besondere Scheu und Furcht einzuflößen vermögen. Lehret die Kinder zuerst mit Männern reden, dann werden sie, wenn es sich einmal nöthig macht, auch schon mit Frauen zu reden wissen.
Auf dem Lande in bäuerlicher Einfachheit erzogen, werden eure Kinder eine klangvollere Stimme bekommen; sie werden sich eben so wenig das unverständliche Geschnatter der Stadtkinder wie die ländliche Ausdrucksweise und den bäuerischen Ton angewöhnen, oder werden wenigstens diese Untugenden leicht wieder ablegen, da der Lehrer, der von ihrer Geburt an mit ihnen zusammenlebt und von Tage zu Tage immer ausschließlicher nur für sie lebt, durch seine eigene correcte Sprache den Einwirkungen der ländlichen Sprache vorbeugen oder sie verwischen wird. Emil wird ein eben so reines Französisch wie ich sprechen, aber er wird es deutlicher sprechen und es bedeutend besser articuliren als ich.
Das Kind, welches zu sprechen beginnt, darf nur solche Worte hören, welche es verstehen kann, und nur solche nachsprechen, die es zu articuliren im Stande ist. Die Mühe, welche es sich dabei gibt, bringt es unwillkürlich dazu die Silben zu wiederholen, als ob es sich darin üben wollte sie deutlicher auszusprechen. Wenn es zu stammeln beginnt, so zerbrecht euch nicht den Kopf damit zu errathen, was es sagen will. Wer beansprucht, daß man auf alle seine Worte lausche, maßt sich dadurch eine Art Herrschaft an, und das Kind darf keine ausüben. Es genüge euch, für das Notwendige mit aller Achtsamkeit zu sorgen. Es ist seine Sache, euch mit dem, was ihm nicht nothwendig ist, bekannt zu machen. Noch weit weniger darf man es zu früh zum Sprechen anhalten; je mehr esden Nutzen davon einsieht, desto mehr Mühe wird es sich geben, von selbst sprechen zu lernen.
Man hat die allerdings richtige Bemerkung gemacht, daß diejenigen, welche zu spät zu sprechen beginnen, niemals so deutlich wie andere sprechen; allein nicht ihr spätes Sprechen trägt die Schuld an dem Fehler des Organs, sondern eben des angeborenen fehlerhaften Organs wegen beginnen sie so spät zu sprechen, denn warum sollten sie sonst später als
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