Emil oder Ueber die Erziehung
verbessern, die sie mit der Zeit unfehlbar schon selbst verbessern werden. Sprecht in ihrer Gegenwart nur immer selbst richtig, sorget dafür, daß sie sich bei euch am wohlsten fühlen, und ihr könnt dann sicher sein, daß sich ihre Sprache nach eurem Vorbilde allmählich reinigen wird, ohne daß ihr je ihre Fehler habt zu rügen brauchen.
Allein ein Mißbrauch von ungleich größerer Wichtigkeitund dem sich eben so leicht vorbeugen läßt, besteht darin, daß man die Kinder zu früh zum Sprechen bringen will, als ob man besorgte, sie würden es nicht von selbst lernen. Dieser rücksichtslose Eifer bringt gerade die entgegengesetzte Wirkung hervor. Sie sprechen in Folge dessen später und unzusammenhängender. Die übertriebene Aufmerksamkeit, die man Allem schenkt, was sie sagen, überhebt sie der Mühe gut zu articuliren, und da sie sich kaum dazu bequemen den Mund zu öffnen, so behalten viele lebenslänglich eine fehlerhafte Aussprache und eine unzusammenhängende Redeweise, die sie fast unverständlich macht.
Ich habe lange unter den Bauern gelebt und nie Jemand, weder Mann noch Frau, weder Knaben noch Mädchen mit der Zunge anstoßen hören. Woher kommt das? Sind die Organe der Landleute anders gebildet als die unsrigen? Nein, aber sie sind anders geübt. Gerade meinem Fenster gegenüber liegt ein Hügel, auf welchem sich die Kinder des Orts zum Spielen zusammenzufinden pflegen. Obgleich die Entfernung nicht unbedeutend ist, unterscheide ich doch Alles, was sie sagen, auf das Genaueste, und verdanke ihnen für dieses Werk manche schätzenswerthe Fingerzeige. Täglich täuscht mich mein Ohr über ihr Alter; ich glaube die Stimmen zehnjähriger Kinder zu vernehmen, und blicke ich auf, so sehe ich der Größe und den Zügen nach nur drei- bis vierjährige vor mir. Aber dieser Täuschung bin ich etwa nicht allein unterworfen; die Städter, welche mich besuchen und welche ich darüber zu Rathe ziehe, verfallen alle in den nämlichen Irrthum.
Die einfache Erklärung liegt darin, daß die Stadtkinder, welche bis zu ihrem fünften oder sechsten Lebensjahre im Zimmer und unter den Flügeln einer Wärterin erzogen werden, nur einige abgerissene Töne hervorzustoßen brauchen, um sich sofort verständlich zu machen; sobald sie nur den Mund öffnen, bemüht man sich ihnen die Worte von den Lippen abzulesen; man spricht ihnen Worte vor, welche sie schlecht nachsprechen, und nur wegen ihrer steten Aufmerksamkeit vermögen diese nämlichen Leute, welche ja fortwährend um sie sind, mehr zu errathen, was sie haben sagen wollen, als was sie wirklich gesagt haben.
Auf dem Lande verhält sich die Sache ganz anders. Eine Bäuerin befindet sich nicht beständig um ihr Kind; es ist daher gezwungen, das, was es ihr verständlich machen will, sehr deutlich und sehr laut sprechen zu lernen. Wenn die Kinder, vom Vater, von der Mutter und den übrigen Kindern entfernt, sich allein auf dem Felde befinden, üben sie sich darin, sich schon in einiger Entfernung vernehmbar zu machen und die Kraft der Stimme nach dem Abstande abzumessen, der sie von denen trennt, welchen sie sich hörbar machen wollen. Das ist die rechte Weise, wie man deutlich sprechen lernt, aber dadurch, daß man einer achtsamen Wärterin einige Laute ins Ohr lallt, wird man es gewiß nicht dahin bringen. Es kann zwar vorkommen, daß ein Dorfkind zu schüchtern ist, auf eine Frage zu antworten, was es aber sagt, sagt es gewiß laut und vernehmlich; statt dessen muß bei dem Stadtkinde die Bonne die Dolmetscherin spielen, sonst vermag Niemand zu verstehen, was es vor sich hin brummt. [30]
Wenn die Kinder heranwachsen, sollten die Knaben diesen Fehler eigentlich in den Instituten und die Mädchen in den Klöstern ablegen, und in der That sprechen diese wie jene auch gewöhnlich weit deutlicher als solche, welche ihre Erziehung allein in dem väterlichen Hause empfangen haben. Die Schuld, daß sie sich trotzdem nie eine so verständliche Aussprache wie die Landkinder aneignen, liegt darin, daß sie gezwungen werden, so Vielerlei auswendig zu lernen und das Gelernte ganz laut aufzusagen. Beim Lernen gewöhnen sie sich nämlich an ein eintöniges Geschnatter, und beim Aufsagen geht es noch schlimmer zu, sie suchen förmlich die Worte mühselig zusammen und ziehen unddehnen die einzelnen Silben. Kein Wunder deshalb, daß, wenn das Gedächtniß in Stich läßt, die Sprache ins Stammeln geräth. Auf diese Weise wird eine fehlerhafte Aussprache angewöhnt und erhalten.
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