Emil oder Ueber die Erziehung
die übrigen sprechen lernen? Haben sie etwa weniger Gelegenheit zum Sprechen, und regt man sie weniger dazu an? Im Gegentheile, gerade wegen der Besorgniß, welche jene Verspätung, so bald man sie bemerkt, hervorruft, müht man sich bei ihnen weit mehr ab als bei solchen, die schon früh deutliche Laute hervorgebracht haben, sie zu Sprechversuchen zu bewegen, und dieser übel angewandte Eifer kann freilich viel dazu beitragen, ihr Sprechen unverständlich zu machen; bei weniger Ueberstürzung würden sie hinreichend Zeit gefunden haben, es zu vervollkommnen.
Solche Kinder, die zu früh zum Sprechen angehalten werden, haben weder Zeit, das, was sie sagen sollen, richtig aussprechen, noch auffassen und verstehen zu lernen. Ueberläßt man sie aber hierbei sich selbst, so schlagen sie den naturgemäßen Weg ein, üben sich zunächst in der Aussprache der leichtesten Silben, und geben euch dann, indem sie allmählich einen Sinn damit verknüpfen, den man freilich erst aus ihren Geberden errathen muß, ihre eigenen Worte, ehe sie von euch die eurigen lernen. Deshalb lernen und eignen sie sich dieselben auch erst an, nachdem sie sie verstanden haben. Da sie nicht fortwährend aufgefordert werden, sie sogleich anzuwenden, so werden sie erst genau aufmerken, welchen Sinn ihr damit verbindet, und erst, wenn sie dessen sicher sind, sie sich aneignen.
Der größte Uebelstand der Ueberstürzung, mit welcher man die Kinder, ehe sie noch das erforderliche Alter erreicht haben, zum Sprechen anhält, liegt nicht darin, daß die ersten Gespräche, die man mit ihnen hält, und die ersten Worte, welche sie sprechen, keinen Sinn für sie haben, sondern daß sie einen andern Sinn als wir hineinlegen, ohnedaß wir es zu merken vermögen, so daß, während sie uns völlig genau zu antworten scheinen, wir uns in Wirklichkeit gegenseitig nicht verstehen. Aus diesem Umstande, daß Jeder demselben Worte einen anderen Sinn unterlegt, schreibt sich gewöhnlich die Ueberraschung her, in die uns nicht selten die Aeußerungen der Kinder versetzen, aus denen wir Vorstellungen herauslesen, die sie durchaus nicht damit verbunden haben. Ich halte diese unsere geringe Achtsamkeit auf den wahren Sinn, den die Worte für die Kinder haben, für die Ursache ihrer ersten Irrthümer, und diese Irrthümer üben selbst dann, wenn die Kinder sie schon als solche erkannt haben, immer noch einen bestimmenden Einfluß auf die Richtung des Geistes ihr ganzes Leben lang aus.
Beschränket deshalb so viel als möglich den Wörterschatz des Kindes. Es kann ihm nur zum großen Nachtheile gereichen, wenn es mehr Wörter als Begriffe hat und wenn es mehr Dinge mit Namen nennen, als Begriffe mit denselben zu verbinden vermag. Ich bin überzeugt, daß einer der Hauptgründe, weshalb die Bauern mehr Mutterwitz besitzen und geweckter als die Städter sind, in dem geringeren Reichthum ihres Wortvorraths beruht. Sie haben zwar nur wenig Begriffe, aber dieselben stehen im Einklange mit einander.
Die ersten Entwickelungen der Kindheit geschehen fast alle gleichzeitig. Das Kind lernt beinahe in derselben Zeit sprechen, essen und gehen. Diese Entwickelungsperiode bildet so recht eigentlich die erste Epoche seines Lebens. Vor derselben ist es nichts mehr und nichts weniger, als was es im Mutterschooße war; es hat kein Gefühl, keine Vorstellung, ja kaum Empfindungen kann man ihm zuschreiben: es fühlt nicht einmal sein eigenes Dasein.
Vivit, et est vitae nescius ipse suae. Ovid, Trist., lib. I.
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Anmerkungen zu Buch Eins
[1] Die erste Erziehung ist am wichtigsten, und diese erste Erziehung gebührt unstreitig den Frauen. Wenn der Schöpfer der Natur gewollt hätte, daß sie den Männern zukäme, würde er ihnen Milch zur Ernährung der Kinder gegeben haben. Redet deshalb in euren Abhandlungen über Erziehung immer vorzugsweise zu den Frauen; denn außer daß sie Gelegenheit haben die Kinder aus größerer Nähe als die Männer zu überwachen und daß sie auf diese stets einen größeren Einfluß ausüben, so ist auch der Erfolg für dieselben von ungleich größerer Wichtigkeit, da fast der größte Theil der Wittwen von dem guten Willen ihrer Kinder abhängig ist und deshalb im Guten oder im Schlechten von der Wirkung ihrer Erziehungsweise am empfindlichsten berührt wird. Die Gesetze, die sich beständig in so hohem Grade mit dem äußern Besitzstand und so wenig mit den Personen befassen, weil sie den Frieden und nicht die Tugend bezwecken,
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