Emil oder Ueber die Erziehung
ängstigt sich und weint die ganze Nacht. Noch am Abend hat man einen Boten ausgesendet, um Erkundigungen über uns einzuziehen und am nächsten Morgen Nachricht von uns zu bringen. Der Bote kehrt in Begleitung eines anderen von uns abgeschickten zurück, welcher uns mündlich entschuldigt und erzählt, daß wir uns vollkommen wohl befinden. Einen Augenblick später erscheinen wir selbst. Nun ändert sich mit einem Schlage die Scene. Sophie trocknet sich die Thränen ab, oder wenn sie noch solche vergießt, sind es Thränen der Wuth. Für ihr stolzes Herz ist es kein Gewinn, daß es über unser Leben beruhigt sein kann: Emil lebt und hat vergeblich auf sich warten lassen.
Bei unserer Ankunft will sie sich einschließen. Man verlangt, daß sie bleibt, und so muß sie denn bleiben. Sofort faßt sie jedoch ihren Entschluß und nimmt eine ruhige und zufriedene Miene an, welche auf Andere ihres Eindrucks nicht verfehlt haben würde. Der Vater kommt uns entgegen und sagt: »Sie haben Ihre Freunde in Sorge versetzt; es fehlt hier nicht an Personen, welche Ihnen nicht so leicht verzeihen werden.« – »Wer denn, Papachen?« fragt Sophie mit dem liebreizendsten Lächeln, das sie zu erzwingen vermag. »Was geht das dich an,« versetzt der Vater, »wenn du es nur nicht bist.« Sophie erwidert kein Wort und schlägt die Augen auf ihre Arbeit nieder. Die Mutter empfängt uns kalt und gezwungen. Emil geräth in Verlegenheit und wagt nicht Sophie anzureden. Da knüpft sie ein Gespräch mit ihm an, fragt nach seinem Befinden, ladet ihn ein, Platz zu nehmen und weiß sich so gut zu verstellen, daß sich der arme junge Mann, der sich noch nicht auf die Sprache heftiger Leidenschaft versteht, durch diese Kaltblütigkeit täuschen läßt und fast selbst empfindlich geworden wäre.
Um ihn aus seinem Irrthume zu reißen, will ich Sophiens Hand ergreifen und sie, wie ich mitunter thue, an meine Lippen führen. Sie zieht sie jedoch heftig und mit einem so scharf betonten »Mein Herr« zurück, daß diese unfreiwillige Bewegung Emil die Augen öffnet.
Da Sophie einsieht, daß sie sich verrathen hat, thut sie sich von nun an weniger Zwang an. Ihre angenommene Kaltblütigkeit verwandelt sich in ironische Verachtung. Auf Alles, was man zu ihr spricht, antwortet sie nur einsilbig und mit schleppender, unsicherer Stimme, als hege sie Furcht, den Ton der Entrüstung allzu scharf durchklingen zu lassen. Emil, halb todt vor Schrecken, blickt sie bekümmert an und sucht sie zu veranlassen, ihre Augen auf ihn zu richten, damit er in denselben ihre wahren Gefühle besser lesen könne. Durch sein Vertrauen nur noch mehr aufgebracht, wirft ihm Sophie einen Blick zu, der ihm die Lust benimmt, sie zu einem zweiten herauszufordern. Bestürzt und zitternd wagt Emil zu seinem großen Glücke nicht mehr zu sprechen oder sie auch nur anzusehen, denn wäre er auch nicht schuldig gewesen, hätte aber ihren Zorn geduldig ertragen können, so würde sie ihm nie verziehen haben.
Da es mir scheint, als ob jetzt der richtige Augenblick für mich gekommen ist, persönlich einzugreifen und die nöthigen Aufschlüsse zu geben, so wende ich mich wieder an Sophie. Ich nehme abermals ihre Hand, die sie mir jetzt nicht mehr entzieht, weil sie im Begriffe steht, ohnmächtig zu werden. Sanft sage ich zu ihr: »Liebe Sophie, uns hat gestern ein Unglück getroffen. Allein Sie sind zu verständig und gerecht, um uns ungehört zu verurtheilen. Hören Sie uns an.« Sie erwidert darauf nichts, und so beginne ich denn zu erzählen:
»Gestern um vier Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir vorgeschriebenermaßen um sieben Uhr hier eintreffen sollten. Wir nehmen uns stets etwas mehr Zeit, als unbedingt nothwendig ist, um uns vor unserer Ankunft noch etwas ausruhen zu können. Drei Viertel des Weges hatten wir bereits zurückgelegt, als wir plötzlich ein klägliches Jammergeschrei vernahmen. Es drang aus einer Bergschluchtin einiger Entfernung von uns hervor. Wir folgen dem Geschrei und finden einen unglücklichen Bauer, der bei seiner Heimkehr aus der Stadt in etwas angetrunkenem Zustande so gefährlich von dem Pferde gestürzt war, daß er das Bein gebrochen hatte. Wir schreien, wir rufen um Hilfe, aber Alles vergebens; Niemand antwortet. Wir versuchen den Verwundeten auf das Pferd zu heben, kommen aber damit nicht zu Stande. Bei der geringsten Bewegung hat der Unglückliche furchtbare Schmerzen auszustehen. So bleibt uns denn schließlich nichts Anderes übrig, als das Pferd
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