Emil oder Ueber die Erziehung
in einem abgelegenen Dickicht anzubinden, aus unseren Armen eine Tragbahre zu machen, den Verwundeten darauf zu legen und ihn so sanft als möglich fortzutragen. Wir schlagen den Weg ein, der seiner Behauptung zufolge nach seiner Wohnung führen mußte. Es war eine so weite Strecke, daß wir genöthigt waren, uns wiederholentlich auszuruhen. Völlig erschöpft erreichen wir endlich unser Ziel. Zu unserm schmerzlichen Erstaunen bemerken wir, daß uns das Haus bereits bekannt ist, und daß der Unglückliche, den wir mit so großer Muhe hierher getragen haben, derselbe Mann ist, der uns an dem Tage, an welchem wir diese Gegend zum ersten Male betraten, mit solcher Herzlichkeit aufgenommen hatte. In der Aufregung, in der wir uns sämmtlich befanden, hatten wir uns bis zu diesem Augenblicke nicht wieder erkannt.«
»Er hatte nur zwei kleine Kinder. Seine Frau, die neuen Mutterfreuden entgegenging, wurde, als sie ihn in diesem Zustande eintreffen sah, von solchem Schrecken ergriffen, daß sie heftige Wehen bekam und wenige Stunden darauf entbunden wurde. Was sollten wir nun wol unter solchen Verhältnissen in einer so entlegenen Hütte thun, wo auf Beistand nicht zu rechnen war? Emil war schnell entschlossen, holte das im Walde zurückgelassene Pferd, ritt mit verhängtem Zügel nach der Stadt und sah sich nach einem Wundarzte um. Diesem überließ er das Pferd, und da er nicht schnell genug eine Wärterin aufzutreiben vermochte, kam er in Begleitung eines Dieners zu Fuß zurück, nachdem er einen anderen zuvor an Sie abgeschickt hatte. Mittlerweile bemühte ich mich, da ich mich, wieSie sich leicht vorstellen können, zwischen einem Manne, der das Bein gebrochen hatte, und einer Frau in Kindesnöthen in höchster Verlegenheit befand, nach besten Kräften Alles im Hause vorzubereiten, was meiner Ansicht nach für Beider Hilfe nothwendig sein konnte.«
»Lassen Sie mich die weiteren Einzelheiten übergehen, da es sich ja um sie nicht handelt. Es war bereits zwei Uhr nach Mitternacht, ehe sich Einer von uns einen Augenblick Erholung gönnen konnte. Erst kurz vor Tagesanbruch sind wir in unserem hiesigen Absteigequartier angelangt, in welchem wir nur die Stunde Ihres Erwachens abgewartet haben, um Ihnen über unser Mißgeschick Rechenschaft abzulegen.«
Ich schweige, ohne noch irgend etwas hinzuzufügen. Allein noch ehe Jemand das Wort ergriffen, tritt Emil an seine Geliebte heran und sagt mit erhobener Stimme und größerer Festigkeit, als ich ihm zugetraut hätte: »In Ihren Händen ruht, wie Sie wohl wissen, mein Schicksal. Sie können mich vor Schmerz sterben lassen; meinen Sie jedoch nicht, daß ich um Ihretwillen die Pflichten der Menschlichkeit vergessen könnte. Sie sind mir noch heiliger als die, welche ich gegen Sie zu erfüllen habe. Selbst um Ihretwillen werde ich sie nie verläugnen.«
Statt aller Antwort erhebt sich Sophie bei diesen Worten, schlingt einen Arm um seinen Hals und küßt ihn auf die Wange. Während sie ihm darauf mit unnachahmlicher Anmuth die Hand reicht, sagt sie zu ihm: »Emil, nimm diese Hand, sie ist dein! Sei, sobald du willst, mein Gemahl und mein Herr; ich werde mir Mühe geben, diese Ehre zu verdienen.«
Kaum hat sie ihn umarmt, so klatscht der Vater freudig in die Hände und ruft: »Noch einmal, noch einmal!« Und sofort gibt ihm Sophie, ohne sich erst lange bitten zu lassen, noch zwei Küsse auf die andere Wange, erschrickt aber fast in demselben Augenblicke über Alles, was sie so eben gethan hat, sucht in den Armen ihrer Mutter Schutz und verbirgt ihr vor Scham erglühendes Antlitz an der mütterlichen Brust.
Ich brauche wol die allgemeine Freude nicht erst zuschildern. Jeder muß sie nachempfinden können. Nach dem Mittagsessen fragt Sophie, ob die Entfernung wol einen Besuch dieser armen Kranken gestatte. Sophie wünscht es und es ist ein gutes Werk. Man geht deshalb zu ihnen und findet sie in zwei besonderen Betten. Auf Emils Veranstaltung war das eine derselben hingebracht worden. Auch trifft man Leute zu ihrer Pflege bei ihnen. Wiederum hatte Emil dieselben angenommen. Für alles Uebrige ist aber bis jetzt so wenig Fürsorge getroffen, daß sie nicht weniger unter dem überall hervortretenden Mangel als unter ihren Krankheiten leiden. Sophie läßt sich von der guten Frau eine Schürze reichen und gibt ihr dann in ihrem Bette die möglichst bequeme Lage. Darauf leistet sie dem Manne denselben Dienst. Ihre sanfte und weiche Hand weiß Alles aufzufinden, was den Kranken
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