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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Schmerz verursachen könnte, und bettet ihre leidenden Glieder so weich als möglich. Sobald sich ihnen Sophie nur naht, fühlen sie sich schon erleichtert. Man sollte meinen, daß sie Alles erräth, was im Stande ist, ihnen wehe zu thun. Das sonst so empfindliche und zum Ekel geneigte Mädchen läßt sich weder von der Unreinlichkeit noch von dem üblen Geruche zurückschrecken und weiß beides zu entfernen, ohne Jemandes Beistand zu bedürfen und ohne die Kranken zu belästigen. Sie, die sich stets durch einen so hohen Grad von Sittsamkeit auszeichnet, ja bisweilen einen gewissen Grad von Stolz zur Schau trägt, sie, die um Alles in der Welt auch nicht mit einer Fingerspitze das Bett eines Mannes berührt haben würde, wendet den Verwundeten ohne alles Bedenken hin und her und bringt ihn in eine bequemere Lage, um darin länger aushalten zu können. Der Eifer der Barmherzigkeit hat eben so hohen Werth als die Sittsamkeit. Was sie thut, vollbringt sie zugleich mit solcher Leichtigkeit und Gewandtheit, daß sich der Kranke, fast ohne eine Berührung empfunden zu haben, erleichtert fühlt. Weib und Mann segnen Beide das liebenswürdige Mädchen, das sie bedient, sie beklagt und tröstet. Sophie ist ihnen ein Engel des Himmels, den ihnen Gott sendet; sie besitzt eines Engels Gestalt und Liebreiz, eines Engels Milde und Güte.Gerührt und mit Bewunderung betrachtet Emil sie im Stillen. Mann, liebe deine Genossin! Gott gibt sie dir als Trösterin in deinen Sorgen, als Gehilfin in deinen Leiden: Siehe, das ist das Weib!
    Man läßt den jungen Weltbürger taufen. Die beiden Liebenden übernehmen Pathenstelle und haben keinen glühenderen Wunsch, als bald Anderen Gelegenheit zu demselben Liebesdienste geben zu können. Sie wünschen den ersehnten Augenblick herbei, sie glauben schon unmittelbar vor demselben zu stehen. Alle Bedenken Sophiens sind gehoben. Allein die meinigen erwachen erst. Noch sind die beiden Liebenden nicht da, wo sie zu sein glauben. Es muß Alles nach der Reihe gehen.
    Nachdem sie sich zwei Tage lang nicht gesehen haben, trete ich eines Morgens mit einem Briefe in der Hand in Emils Zimmer und sage, während ich ihn fest anblicke, zu ihm: »Was würdest du thun, wenn man dir mittheilte, daß Sophie gestorben ist?« Er stößt einen gellenden Schrei aus, erhebt sich händeringend und schaut mich lautlos und mit verstörten Blicken an. »Antworte doch!« fahre ich mit gleicher Ruhe fort. Nun aber tritt er, durch meine Kaltblütigkeit gereizt, mit zornfunkelnden Augen auf mich zu, und indem er in einer fast drohenden Haltung vor mir stehen bleibt, ruft er: »Was ich thun würde? … Noch weiß ich es nicht. So viel aber weiß ich, daß ich den, welcher mir diese Nachricht brächte, nie in meinem Leben wiedersehen würde.« – »Beruhige dich nur,« erwidere ich lächelnd, »sie lebt, befindet sich wohl und denkt an dich. Heute Abend werden wir erwartet. Jetzt aber laß uns einen Spaziergang machen und ein wenig mit einander plaudern.«
    Die Leidenschaft, die ihn beherrscht, gestattet ihm nicht mehr, sich wie sonst rein auf Ausbildung des Verstandes abzielenden Unterhaltungen hinzugeben. Jetzt muß ich diese Leidenschaft selbst als Mittel benutzen, damit er meinen Belehrungen von Neuem ein offenes Ohr schenkt. Das wollte ich durch jene schreckliche Einleitung bewirken. Jetzt bin ich dessen sicher, daß er mich anhören wird.
    »Wir sollen glücklich sein, lieber Emil; das ist derZweck eines jeden empfindenden Wesens. Dies ist der Hauptwunsch, den uns die Natur einflößte, und überhaupt der einzige Wunsch, der uns nie verläßt. Wo aber ist das Glück zu finden? Wer kennt es? Jeder sucht nach demselben, aber Niemand findet es. Man reibt sein Leben damit auf, daß man dem Glücke rastlos nachjagt, und man stirbt, ohne es erreicht zu haben. Als ich dich, mein junger Freund, bei deiner Geburt in meine Arme nahm und das höchste Wesen zum Zeugen der Verpflichtung anrief, die ich zu übernehmen den Muth hatte; als ich gelobte, meine Lebenstage dem Glücke der deinigen zu weihen, wußte ich da wol selbst, wozu ich mich verpflichtete? Nein, ich wußte lediglich, daß ich mein Glück nur sichern würde, wenn ich das deinige begründete. Mein Bemühen war darauf gerichtet, den Grundstein zu einem Glücke zu legen, an welchem wir Beide Theil nehmen konnten.«
    »So lange wir nicht wissen, was wir thun sollen, besteht unsere ganze Weisheit darin, in Unthätigkeit zu verharren. Von allen Grundsätzen ist dies

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