Emil oder Ueber die Erziehung
derjenige, an welchen sich der Mensch vorzugsweise halten muß und den er zugleich am wenigsten zu befolgen versteht. Sucht man das Glück, ohne zu wissen wo es ist, so läuft man Gefahr, sich von ihm immer weiter zu entfernen, setzt man es bei jedem Irrwege stets von Neuem auf das Spiel. Aber es versteht nicht Jedermann, sich ruhig zu verhalten. Bei der Unruhe, mit welcher uns die Sucht nach Wohlbefinden erfüllt, laufen wir in dem Haschen nach demselben lieber in der Irre umher, als daß wir, um es zu suchen, in Unthätigkeit bleiben; und haben wir uns einmal von der Stelle entfernt, von der aus wir es zu erkennen vermöchten, so wissen wir uns nie wieder auf dieselbe zurückzufinden.«
»Obgleich ich mich in der nämlichen Unwissenheit befand, suchte ich doch diesen Fehler zu vermeiden. Als ich die Sorge für dich übernahm, war ich entschlossen, nicht einen einzigen unnützen Schritt zu thun, und auch dich davon abzuhalten. Ich hielt mich auf dem Wege der Natur, in der Voraussetzung, daß sie mir auch den zum Glücke weisen würde. Es hat sich herausgestellt, daßbeide zusammenfielen, und daß ich, ohne es zu wissen, schon auf dem Wege zum Glücke war.«
»Sei du selbst mein Zeuge, sei mein Richter, nie werde ich dich als solchen ablehnen. Deine ersten Lebensjahre sind den späteren nicht zum Opfer gebracht worden. Alle Güter, mit welchen dich die Natur ausgestattet, hast du reichlich genossen. Von den Uebeln, welchen sie dich unterwarf und gegen die ich dich nicht habe schützen können, hast du doch nur diejenigen empfunden, welche dich gegen die übrigen abzuhärten vermochten. Nur um ein größeres Leiden zu vermeiden, hast du ein kleineres erdulden müssen. Weder Haß noch Sklaverei hast du kennen gelernt. Frei und zufrieden, bist du gerecht und gut geblieben, denn Leiden und Laster sind unzertrennlich mit einander verbunden, und erst dann wird der Mensch schlecht, wenn er unglücklich wird. Mögest du dir die Erinnerung an deine Kindheit bis in die spätesten Tage deines Lebens bewahren! Ich fürchte bei deinem guten Herzen nicht, daß du sie dir je ins Gedächtniß zurückrufen wirst, ohne die Hand zu segnen, die sie leitete.«
»Als du in das Alter der Vernunft tratest, habe ich dich vor den Vorurtheilen der Menschen bewahrt; als dein Herz lebhafter zu klopfen begann, habe ich dich vor der Herrschaft der Leidenschaften behütet. Wäre ich im Stande gewesen, dir diese innere Ruhe bis an dein Lebensende zu erhalten, so würde ich mein Werk in Sicherheit gebracht haben und du würdest beständig so glücklich sein, wie es ein Mensch nur zu sein vermag. Aber umsonst habe ich deine Seele, lieber Emil, in den Styx getaucht, es ist mir nicht gelungen, sie überall unverwundbar zu machen. Ein neuer Feind steht wider dich auf, den du noch nicht zu besiegen gelernt hast, und vor dem ich dich nicht habe schützen können. Dieser Feind bist du selbst. Natur und Schicksal hatten dich frei gelassen. Mißgeschick vermochtest du zu ertragen, Schmerzen des Körpers konntest du aushalten, die der Seele waren dir noch unbekannt. Du warst nur in so weit abhängig, wie es die menschliche Lage mit sich bringt. Jetzt dagegen hängst du von all den Neigungen ab, die du selbst in dir groß gezogen hast. Dadurch,daß du wünschen lerntest, hast du dich zum Sklaven deiner Wünsche gemacht. Von welchen Schmerzen kann deine Seele ergriffen werden, ohne daß du dich im Geringsten änderst, ohne daß dich irgend etwas kränkt, ohne daß irgend etwas dein Wesen berührt! Welche Leiden kannst du empfinden, ohne krank zu sein! Wie oft kannst du den Tod erleiden, ohne zu sterben! Eine Lüge, ein Irrthum, ein Zweifel kann dich in Verzweiflung stürzen.«
»Du sahst auf dem Theater, wie Helden, die sich dem Uebermaße ihres Schmerzes überließen, die Scene mit wahnsinnigem Geschrei erfüllten, einen weibischen Kummer bezeigten, wie Kinder weinten und sich so den öffentlichen Beifall erwarben. Erinnerst du dich, wie du dich über dieses Jammern, dieses Geschrei und Wehklagen von Männern ärgertest, bei denen man nur Beweise von Standhaftigkeit und Festigkeit hätte erwarten dürfen? Wie, sagtest du voller Entrüstung, sind das die Beispiele, die man uns zur Nachachtung, und die Muster, die man uns zur Nachahmung aufstellt? Ist man etwa besorgt, daß der Mensch nicht klein, nicht unglücklich, nicht schwach genug sei, wenn man seiner Schwäche nicht unter dem Trugbilde der Tugend noch Weihrauch streut? Mein junger Freund, sei
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