Emil oder Ueber die Erziehung
Angelegenheiten zu thun. So ist der Act, nach welchem der Souverain die Wahl eines Oberhaupts anordnet, ein Gesetz, während der Act der Wahl dieses Oberhauptes in Ausführung des Gesetzes nur ein Regierungsact ist.
Hier zeigt sich uns also noch eine dritte Beziehung, unter welcher das gesammte Volk betrachtet werden kann, nämlich als Obrigkeit oder Vollstrecker des Gesetzes, welches es als Souverain erlassen hat. [35]
Wir werden untersuchen, ob es möglich ist, daß sich das Volk seines Souverainitätsrechtes begibt, um eine oder mehrere Persönlichkeiten mit demselben zu bekleiden, denn da der Wahlact kein Gesetz und das Volk bei diesem Acte nicht selbst Souverain ist, so läßt sich nicht einsehen, wie es dann ein Recht, welches es gar nicht besitzt, zu übertragen vermag.
Da das Wesen der Souverainität in dem allgemeinen Willen besteht, so ist noch weniger ersichtlich, wie man sich die Gewißheit verschaffen kann, daß sich ein Einzelwille stets mit diesem allgemeinen Willen in Übereinstimmung befindet. Man hat weit mehr Berechtigung zu der Annahme, daß er demselben im Gegentheile gar oft entgegen sein wird, da das Privatinteresse stets nach Bevorzugung strebt, während das Gesammtinteresse auf Gleichheit ausgeht. Wäre diese Übereinstimmung aber auch möglich, so würde doch schon der Umstand, daß sie nicht nothwendig und unzerstörbar wäre, hinreichen, die Bildung des souverainen Rechts zu verhindern.
Wir werden untersuchen, ob ohne Verletzung dessocialen Vertrages die Oberhäupter des Volks, unter welchem Namen sie auch immer erwählt sein mögen, je etwas Anderes als Beamte des Volkes sein können, die dasselbe mit der Vollstreckung der Gesetze betraut hat, ob ihm diese Oberhäupter nicht Rechenschaft über ihre Verwaltung schuldig sind und nicht selbst unter den Gesetzen stehen, deren Geltendmachung ihnen übertragen ist.
Wenn das Volk nie auf sein Hoheitsrecht völlig verzichten kann, darf es dasselbe dann nicht wenigstens auf einige Zeit auf Andere übertragen? Wenn es sich keinen Herrn geben kann, ist es dann berechtigt, sich Stellvertreter zu erwählen? Diese Frage ist unstreitig wichtig und verdient eine eingehende Untersuchung.
Kann das Volk weder Souverain noch Stellvertreter haben, so werden wir untersuchen, wie es im Stande ist, selbst seine Gesetze zu ertheilen; ferner, ob es vieler Gesetze bedarf; ob es dieselben oft abändern muß; ob es vortheilhaft ist, wenn ein großes Volk sein eigener Gesetzgeber ist;
ob das römische Volk nicht ein großes Volk war;
ob es gut ist, daß es große Völker gibt.
Aus den vorhergehenden Betrachtungen ergibt sich, daß es im Staate zwischen den Unterthanen und dem Souveraine einen Zwischenkörper gibt; und dieser aus einem oder mehreren Gliedern gebildete Zwischenkörper ist mit der öffentlichen Verwaltung, der Vollstreckung der Gesetze und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen und der politischen Freiheit betraut.
Die Glieder dieses Körpers heißen Obrigkeiten oder Könige, d. h. Regierende. Im Hinblick auf die Person, welche diesen Körper bildet, wird er Fürst genannt, und im Hinblick auf seine Thätigkeit Regierung.
Wenn wir die Handlung des ganzen Körpers in seiner Wirkung auf sich selbst, d. h. die Beziehung des Ganzen auf das Ganze oder des Souverains auf den Staat betrachten, so können wir diese Beziehung mit den äußeren Gliedern einer stetigen Proportion vergleichen, deren mittleres Glied dann die Regierung bildet. Die Obrigkeit erhältvon dem Souveräne die Befehle, die sie dem Volke übermittelt, und Alles richtig gegen einander abgewogen, so beläuft sich ihr Product oder ihre Potenz eben so hoch wie das Product oder die Potenz der Bürger, welche auf der einen Seite Unterthanen und auf der anderen Souveraine sind. Man kann den Werth keines dieser drei Glieder verändern, ohne die Proportion augenblicklich aufzuheben. Wenn der Souverain regieren will, oder wenn der Fürst sich für berechtigt hält, Gesetze zu ertheilen, oder wenn der Unterthan den Gehorsam verweigert, so folgt der Ordnung Unordnung und der sich auflösende Staat wird eine Beute des Despotismus oder der Anarchie.
Wir wollen einmal annehmen, der Staat bestehe aus zehntausend Bürgern. Der Souverain läßt sich nur collectiv und in der Gesammtheit denken; in der Eigenschaft eines Unterthanen hat jedoch jeder Einzelne ein individuelles und unabhängiges Dasein. Deshalb verhält sich der Souverain zum Unterthanen wie zehntausend gegen eins, d. h. jedes Glied
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