Emil oder Ueber die Erziehung
den Charakter eines wirklichen Vertrages annimmt, in welchem die beiden Contrahenten, da sie als solche keinen gemeinsamen Oberen [34] haben, hinsichtlich der Bedingungen des Vertrages ihre eigenen Richter bleiben, haben folglich zu erörtern, ob nicht Jeder seinerseits frei und befugt ist, denselben zu lösen, sobald er sich für geschädigt hält.
Wenn sich nun ein Sklave nicht ohne Vorbehalt anseinen Herrn veräußern darf, wie darf sich dann ein Volk ohne Vorbehalt an seinen Oberherrn veräußern? Und wenn dem Sklaven das Richteramt darüber zusteht, ob sein Herr den Vertrag innehält, wie sollte es dann einem Volke nicht zustehen zu entscheiden, ob sein Oberhaupt den Vertrag beobachtet?
Auf diese Weise gezwungen, zu unserm Ausgangspunkte zurückzukehren, wird uns, da wir auch den Sinn des Collectivnamens »Volk« betrachten müssen, noch zu untersuchen bleiben, ob die Gründung eines solchen einen Vertrag, wenigstens einen stillschweigenden erheischt, der demjenigen, welchen wir voraussetzen, vorangeht.
Da das Volk schon vor der Wahl eines Königs ein Volk ist, was anders hat es dann wol zu einem solchen machen können als der sociale Vertrag? Der sociale Vertrag ist folglich die Grundlage aller bürgerlichen Gesellschaft, und in dem Wesen dieses Actes hat man das Wesen der Gesellschaft zu suchen, von welcher er ausgeht.
Wir werden untersuchen, welchen Inhalt dieser Vertrag hat, und ob er sich nicht ungefähr folgendermaßen ausdrücken ließe: »Wir stellen sämmtlich unsere Güter, unsere Personen, unser Leben und unsere ganze Macht unter die Oberleitung des allgemeinen Willens und wir betrachten Alle insgesammt jedes einzelne Glied als einen vom Ganzen untrennbaren Theil.«
Dies vorausgesetzt, wollen wir zur Definition der Ausdrücke, welche wir bedürfen, bemerken, daß dieser Act der Vereinigung an Stelle der besonderen Person jedes einzelnen Contrahenten einen moralischen und collectiven Körper setzt, der aus eben so vielen Gliedern gebildet wird, als die Vereinigung Stimmen zählt. Dieses Gemeinwesen führt im Allgemeinen den Namen politischer Körper, wird aber von seinen Gliedern Staat genannt, wenn er passiv, Souverain, wenn er activ ist, und Macht im Vergleiche mit andern politischen Körpern. Was die Glieder selbst anlangt, so nehmen dieselben in ihrer Gesammtheit den Namen Volk an, während sie sich im Besonderen als Glieder des Gemeinwesens oder als Theilhaber der höchstenGewalt Bürger, dagegen als dieser Gewalt unterworfen Unterthanen nennen.
Wir werden die Wahrnehmung machen, daß dieser Act der Vereinigung eine gegenseitige Verpflichtung zwischen dem Staate und den Einzelnen in sich faßt, und daß sich also jedes Individuum, indem es gleichsam mit sich selbst einen Vertrag abschließt, in doppelter Beziehung verbindlich macht, nämlich als Glied der höchsten Gewalt den Einzelnen gegenüber, und als Glied des Staates der souverainen Gewalt gegenüber.
Wir werden ferner bemerken, daß, da Niemand an Verpflichtungen gebunden ist, welche er nur mit sich selbst eingegangen, gerade wegen dieser beiden verschiedenen Beziehungen, unter welchen Jeder von ihnen betrachtet werden muß, ein öffentlicher Beschluß, welcher im Stande ist alle Unterthanen gegen ihren Souverain zu verpflichten, nie den Staat gegen sich selbst verbindlich machen kann. Hieraus ist ersichtlich, daß es kein anderes Grundgesetz im eigentlichen Sinne des Wortes gibt noch geben kann als den socialen Vertrag. Das soll jedoch nicht etwa heißen, daß sich der politische Körper nicht in gewisser Hinsicht gegen Andere verpflichten könne, denn in Beziehung auf Fremdes wird er alsdann ein einfaches Wesen, ein Individuum.
Da es den beiden den Vertrag schließenden Theilen, nämlich jedem Einzelnen und dem Staatskörper, an einem gemeinsamen Oberen fehlt, der über ihre Zwistigkeiten zu entscheiden vermöchte, so werden wir zu untersuchen haben, ob es Jedem von Beiden zusteht, den Vertrag zu brechen, sobald es ihm beliebt, d. h. sich für seinen Theil von demselben loszusagen, wenn er sich für beeinträchtigt hält.
Um in diese Frage Licht zu bringen, werden wir nicht außer Acht lassen, daß die Handlungen des Souverain:, da derselbe dem socialen Vertrage zufolge nur nach dem gemeinsamen und allgemeinen Willen handeln kann, gleichfalls nur allgemeine und gemeinsame Zwecke haben dürfen, woraus sich ergibt, daß ein Einzelner von dem Souverain nicht unmittelbar beeinträchtigt werden kann, so lange es nicht Alle werden.
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