Emil oder Ueber die Erziehung
fast zwei volle Jahre darauf verwandt haben, einige der größeren und eine noch weit größere Anzahl der kleineren Staaten Europas zu durchstreifen, nachdem wir zwei oder drei Hauptsprachen erlernt, nachdem wir das wirklich Merkwürdige gesehen haben, sei es auf dem Gebiete der Natur oder dem der Künste, handle es sich um Regierungen oder Unterthanen: macht mich Emil, den die Ungeduld verzehrt, darauf aufmerksam, daß die zur Reise bestimmte Zeit abgelaufen sei. Darauf erwidere ich ihm: »Nun wohl, mein Freund, du wirst dich des Hauptzweckes unserer Reise erinnern. Du hast gesehen und beobachtet. Was ist nun das Endresultat deiner Beobachtungen? Was für einen Entschluß hast du gefaßt?« Ist nun meine Methode richtig, so wird er mir ungefähr folgende Antwort ertheilen müssen:
»Welchen Entschluß ich gefaßt habe? Das zu bleiben, wozu Sie mich erzogen haben, und zu den Fesseln, welche mir die Natur und die Gesetze angelegt, freiwillig nichtnoch andere hinzuzufügen. Je mehr ich das Werk der Menschen in ihren Einrichtungen prüfe, desto mehr bricht sich in mir die Ueberzeugung Bahn, daß sie sich gerade durch ihr Jagen nach Unabhängigkeit selbst in Sklaverei stürzen, und daß sie sogar ihre Freiheit in vergeblichen Anstrengungen vergeuden, sich dieselbe zu sichern. Um nicht dem Strome der Dinge nachgeben zu müssen, lassen sie sich von Tausenderlei fesseln; wollen sie dann einen Schritt thun, so können sie nicht, und sind erstaunt, sich überall festgehalten zu sehen. Wie mir scheint, hat man, um sich frei zu machen, gar nichts zu thun. Es ist vollkommen ausreichend, daß man nicht aufhören will, es zu sein. Du allein, lieber Lehrer, hast mich frei gemacht, indem du mich lehrtest, mich der Nothwendigkeit zu unterwerfen. Sie möge an mich herantreten, wann es ihr beliebt, ich lasse mich ohne Zwang von ihr mit fortziehen; und da ich nicht Lust habe gegen sie anzukämpfen, so fasse ich für nichts, das mich zurückhalten könnte, Zuneigung. Auf unserer Reise habe ich mich nach irgend einem Erdwinkel umgesehen, wo ich gänzlich mein eigener Herr sein könnte; aber an welchem Orte wäre man wol unter den Menschen nicht mehr von ihren Leidenschaften abhängig? Alles wohl erwogen, habe ich gefunden, daß schon mein Wunsch einen Widerspruch in sich schließt. Denn sollte ich mein Herz auch sonst an nichts hängen, so würde ich mich doch immer von der Scholle fesseln lassen, auf der ich mich niedergelassen habe. Mein Leben würde mit dieser Scholle verknüpft sein, wie das der Dryaden mit ihren Bäumen. Ich habe mich davon überzeugt, daß ich, da Herrschaft und Freiheit einmal zwei unvereinbare Worte sind, nicht Herr einer Hütte sein könnte, ohne aufzuhören, meiner selbst Herr zu sein.«
Hoc erat in votis, modus agri non ita magnus. [40]
»Ich erinnere mich, daß mein Vermögen die Ursache unserer Nachforschungen war. Sie bewiesen mir auf das Überzeugendste, daß ich mir Reichthum und Freiheit nichtgleichzeitig bewahren könnte. Wenn Sie jedoch wollten, daß ich frei und zugleich bedürfnißlos wäre, so verlangten Sie zwei Dinge, die sich nicht mit einander vereinen lassen, denn ich würde mich der Abhängigkeit von den Menschen nur dann entziehen können, wenn ich mich in die Abhängigkeit von der Natur begeben wollte. Was werde ich also mit dem Vermögen anfangen, das mir meine Eltern hinterlassen haben? Das Erste wird sein, daß ich mich von demselben unabhängig erhalte. Ich werde alle Bande lösen, die mich an dasselbe fesseln. Läßt man es mir, so wird es mir bleiben, raubt man es mir, so wird man mir dadurch noch nicht den Untergang bereiten. Ich werde mich nicht abquälen, es zu behalten, sondern fest an meinem Platze ausharren. Reich oder arm, ich werde frei sein. Ich werde es nicht allein in dem oder jenem Lande, in dieser oder jener Gegend, nein, ich werde es überall auf Erden sein. Für mich sind alle Fesseln des Vorurtheils zerrissen, ich kenne keine andere als die der Nothwendigkeit. Von Geburt an habe ich sie tragen lernen und werde sie bis an mein Ende tragen, denn ich bin ein Mensch. Und weshalb sollte ich sie nicht tragen dürfen, wenn ich frei bin, da ich sie als Sklave ja auch tragen müßte, und zum Ueberfluß noch die der Sklaverei.«
»Was kümmert mich meine Lage auf Erden? Was kümmert mich, wo ich bin? Ueberall, wo es Menschen gibt, bin ich bei meinen Brüdern; überall, wo es keine gibt, bin ich bei mir selbst. So lange ich im Stande sein werde, unabhängig und reich zu
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