Emil oder Ueber die Erziehung
läßt, weil sie mit ihnen einmal in demselben Buche stehen, wollen wir uns auf diejenigen beschränken, welche der Verfasser ausdrücklich für Kinder gedichtet zu haben scheint.
Ich kenne in der ganzen Lafontaineschen Sammlung nur fünf oder sechs Fabeln, aus denen kindliche Naivität in besonders hohem Grade hervorleuchtet. Von diesen fünf oder sechs wähle ich die erste [22] als Beispiel, weil ihre Moral noch am meisten jedem Alter angemessen ist, die Kinder sie am leichtesten begreifen und am liebsten lernen und weil sie deshalb der Verfasser wol vorzugsweise an die Spitze seines Buches gestellt hat. Wenn man bei ihm wirklich die Absicht voraussetzt, sich den Kindern verständlich zu machen, ihnen zu gefallen und sie zu belehren, so ist diese Fabel sicherlich sein Meisterwerk. Man gestatte mir deshalb, sie Satz für Satz durchzugehen und einer kurzen Prüfung zu unterwerfen.
Der Rabe und der Fuchs.
Eine Fabel.
»Meister Rabe, auf einem Baume sitzend,«Meister! Welche Bedeutung verbinden wir mit diesem Worte an und für sich? Was bedeutet es vor einem Eigennamen? Was hat es hier für einen Sinn?
Was ist ein Rabe?
Was soll das heißen: auf einem Baume sitzend? Man sagt doch nicht: »Ein Rabe, auf einem Baume sitzend,« sondern ein auf einem Baume sitzender Rabe. Folglich muß man auf die abweichende Wortstellung in der Poesie aufmerksam machen, muß erklären, was Prosa und was Verse sind.
»Hielt in seinem Schnabel einen Käse.«
Was für einen Käse? War es ein Schweizer-, Brier- oder Holländischer Käse? Hat das Kind bisher keinen Raben gesehen, was werdet ihr dann mit euren Erzählungen über einen solchen gewinnen? Hat es jedoch schon welche gesehen, wie wird es sich dann zusammenreimen können, daß sie einen Käse in ihrem Schnabel halten? Die Bilder müssen stets aus der Natur genommen sein. »Meister Fuchs, durch den Geruch herbeigelockt,«
Wieder ein Meister! Für diesen ist der Titel jedoch gut gewählt; er ist in der That ein mit allen Kunstgriffen seines Handwerks vertrauter Meister. Man muß nun wieder auseinandersetzen, was ein Fuchs ist, und seine wahre Natur von dem Charakter unterscheiden, den man ihm hergebrachtermaßen in den Fabeln beilegt.
»Herbeigelockt.« Dies Wort ist im Französischen wenig gebräuchlich. Eine Erklärung kann deshalb nicht umgangen werden. Man muß darauf aufmerksam machen, daß man sich desselben nur in Versen zu bedienen pflegt. Das Kind wird fragen, weshalb man denn in Versen eine andere Sprachweise anwendet als in Prosa? Was wollt ihr ihm darauf antworten?
»Durch den Geruch eines Käses herbeigelockt!« Dieser Käse, den ein auf einem Baume sitzender Rabe im Schnabel hält, muß wirklich einen sehr starken Geruch haben, um noch von dem Fuchse in einem Dickicht oder in seinem Bau gerochen werden zu können! Wollt ihr auf diese Weise in eurem Zöglinge den Geist einer verständigen Kritik hervorrufen und nähren, der sich nicht so leichtblenden läßt und in den Erzählungen Anderer Wahrheit und Lüge wohl zu unterscheiden weiß?
»Hielt ungefähr folgende Anrede an ihn:«
»Folgende Anrede!« Die Füchse sprechen also? Sie sprechen demnach die nämliche Sprache wie die Raben? Weiser Lehrer, sei auf deiner Hut! Wäge deine Antwort, ehe du sie ertheilst, wohl ab; sie ist wichtiger, als du glaubst.
»Ei! Guten Tag, Herr Rabe!«
Herr! Ein Titel, den das Kind hier spottweise anwenden hört, noch ehe es weiß, daß es ein Ehrentitel ist. Diejenigen, welche, wie in den meisten Ausgaben steht, »Herr von Rabe« lesen, würden sich noch weit mehr abmühen müssen, ehe es ihnen gelänge, dieses »von« nur einigermaßen zu erklären. »Wie hübsch du bist! Wie schön du mir erscheinst!«
Ein Flickwort, ein überflüssiger Wortschwall! Dadurch, daß das Kind die nämliche Sache nur mit anderen Worten wiederholen hört, gewöhnt es sich selber eine nachlässige Sprache an. Wenn ihr den Einwurf macht, daß in dieser Weitschweifigkeit eine Kunst des Verfassers liege, daß er die Absicht des Fuchses hervorheben wolle, durch Anhäufung der Worte seine Schmeicheleien zu verstärken, so würde dies wol für mich, aber nicht für meinen Schüler als Entschuldigung gelten können.
»Ohne zu lügen, wenn dein Gesang« u. s. w.
»Ohne zu lügen!« Man lügt also mitunter? Was für Begriffe wird sich aber das Kind bilden, wenn ihr ihm erklärt, daß der Fuchs gerade aus dem Grunde sagt »ohne zu lügen«, weil er lügt?
»Deinem Gefieder entspricht.«
»Entspricht!«
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