Emil oder Ueber die Erziehung
haben, für Wissenschaft ausgibt! Mit dem ersten Worte, mit dem das Kind sich abspeisen läßt, mit der ersten Sache, die es, ohne selbst den Nutzen einzusehen,auf das Wort Anderer hinnimmt, ist seine eigene Urtheilskraft dahin. Es wird lange in den Augen der Thoren glänzen müssen, ehe es einen solchen Verlust wieder zu ersetzen vermag. [21]
Nein, wenn die Natur dem Gehirne des Kindes solche Elasticität verleiht, die dasselbe befähigt, allerlei Eindrücke aufzunehmen, so liegt es sicherlich nicht in ihrer Absicht, daß man dasselbe mit Königsnamen, Daten, Bezeichnungen aus der Heraldik, der Sphärik, der Geographie und mit all’ jenen Wörtern belasten soll, die für sein Alter keinen Sinn haben und überhaupt für jedes Alter ohne irgend einen Nutzen sind, und wodurch man die Kindheit nur traurig macht und ihr die besten Kräfte raubt. Es liegt vielmehr in ihrer Absicht, daß alle Ideen, die das Kind zu fassen vermag und welche ihm zum Nutzen gereichen können, alle diejenigen, welche sich auf sein Glück beziehen und es eines Tages über seine Pflichten aufklären sollen, sich ihm frühzeitig mit unauslöschlichen Zügen eingraben und ihm dazu dienen, sich während seines ganzen Lebens dergestalt zu betragen, wie es seinem Wesen und seinen Fähigkeiten angemessen ist.
Ohne jegliches Bücherstudium bleibt doch die Art von Gedächtniß, welche ein Kind überhaupt besitzen kann,deswegen nicht müßig. Alles, was es sieht, Alles, was es hört, fällt ihm auf und es erinnert sich dessen später. Es führt über die Handlungen, über die Reden der Menschen ein förmliches Register, und seine ganze Umgebung bildet das Buch, aus welchem es, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, sein Gedächtniß unaufhörlich bereichert, bis seine Urteilskraft dereinst im Stande ist, daraus Nutzen zu ziehen. In der Wahl der Gegenstände, in der Bemühung stets nur diejenigen in seine Nähe zu bringen, die es aufzufassen vermag, und ihm diejenigen fern zu halten, die ihm unbekannt bleiben sollen, besteht die wahre Kunst, diese erste Fähigkeit in ihm auszubilden. Gerade hierdurch muß man ihm einen Schatz von Kenntnissen zuzuführen suchen, die zu seiner Erziehung in der Jugend und zu seinem Verhalten zu allen Zeiten beitragen werden. Diese Methode, das gestehe ich offen, bildet allerdings keine kleine Wunderkinder und gibt den Gouvernanten und Lehrern keine Gelegenheit zu glänzen; dafür bildet sie aber verständige, kräftige, an Leib und Seele gesunde Menschen, welche, trotzdem daß sie in der Jugend keine Bewunderung erregen, sich als Erwachsene Ehre und Ansehen erwerben werben.
Emil wird nie etwas auswendig lernen, nicht einmal Fabeln, selbst die von Lafontaine nicht, so naiv, so reizend sie auch sind, denn die Worte der Fabeln sind eben so wenig die Fabeln selbst, als die Worte der Geschichte die Geschichte selbst sind. Wie kann man bis zu dem Grade verblendet sein, daß man die Fabeln die Moral der Kinder nennt, wie kann man übersehen, daß die Fabel dieselben täuscht, während sie sie ergötzt; daß sich die Kinder, durch Lügen verführt, die Wahrheit entgehen lassen, und daß gerade das, was man hervorsucht, ihnen den Unterricht angenehm zu machen, sie verhindert, aus ihm Nutzen zu ziehen? Die Fabeln können den Erwachsenen zur Belehrung dienen; Kindern dagegen muß man die nackte Wahrheit sagen. Sobald man dieselbe mit einem Schleier verhüllt, bemühen sie sich nicht mehr, denselben zu lüften.
Man läßt alle Kinder Lafontaine’s Fabeln lernen, und doch versteht sie kein einziges. Wenn sie sie verstünden,würde es noch schlimmer sein, denn die Moral derselben ist so eigentümlich und ihrem Alter so wenig angemessen, daß sie die Kinder weit eher dem Laster, als der Tugend zuführen würden. Das sind, wird man einwenden, abermals Paradoxien. Ich bestreite es nicht; aber laßt uns zusehen, ob es Wahrheiten sind.
Ich behaupte, daß ein Kind die Fabeln, welche man es lernen läßt, nicht versteht, weil trotz aller Bemühungen sie zu vereinfachen, doch die Lehre, welche man daraus ziehen will, unwillkürlich dazu nöthigt, sich auf Ideen zu berufen, die es nicht zu fassen im Stande ist, und weil sogar die dichterische Form, obgleich sie ihm das Behalten erleichtert, ihm die Auffassung erschwert, so daß man der gefälligen Form zu Liebe die Klarheit Preis gibt. Ohne die Menge von Fabeln anzuführen, die für Kinder weder verständlich noch nützlich sind, und die man sie unbedenklich mit den übrigen lernen
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