Emil oder Ueber die Erziehung
Empfindungen, unsere Willensmeinungen, unsere Wünsche ohne jegliche Mittelsperson mitzutheilen, ist eine Kunst, deren Nutzen jedem Lebensalter einleuchtend gemacht werden kann. Durch welches Wunder ist denn nun diese so nützliche und angenehme Kunst für die Kindheit zu einer Plage geworden? Dadurch, daß man sie zwingt, sich dieselbe wider ihren Willen anzueignen, und sie einen Gebrauch davon machen läßt, von dem sie nichts begreifen. Ein Kind ist wenig bedacht darauf, das Werkzeug zu vervollkommnen, mit dem man es peinigt; sorget ihr jedoch dafür, daß dieses Werkzeug ihm Freude bereitet, so wird es sich auch bald ohne euren Antrieb mit demselben beschäftigen.
Man bemüht sich unablässig, die besten Methoden für den Leseunterricht aufzufinden; man erfindet Lesemaschinen, Lesewandtafeln, ja man verwandelt die Kinderstube in eine Buchdruckerwerkstatt. Locke wünscht sogar, man solle sich beim Leseunterrichte der Würfel bedienen. Ist das nicht eine klug ausgesonnene Erfindung? Es ist ein wahres Elend! Ein weit sichreres Mittel als alle die angegebenen, welches aber immer wieder in Vergessenheit geräth, ist der Lerntrieb. Flößet ihr dem Kinde diesen Trieb ein, dann bedarf es eurer Lesemaschinen und Würfel nicht mehr, dann wird jede Methode gut sein.
In dem augenblicklichen Interesse liegt die große Triebfeder, aber auch die einzige, welche sicher und weit führt. Emil erhält bisweilen von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Verwandten, seinen Freunden Einladungsbriefchen zu einem Mittagsessen, zu einem Spaziergange, einer Wasserfahrt oder zur Theilnahme an einer öffentlichen Feierlichkeit. Diese Briefchen sind kurz, deutlich, reinlich, schön geschrieben. Nun muß er erst Jemanden suchen, der sie ihm vorliest. Dieser Jemand läßt sich nun aber nicht immer zur rechten Zeit auftreiben, oder beweist sich heutegegen das Kind gerade eben so ungefällig, wie es sich gestern ihm gegenüber gezeigt hat. So geht die Gelegenheit wie die rechte Zeit vorüber. Endlich liest man ihm das Briefchen vor, aber nunmehr ist es zu spät. Ach, wenn es doch selbst hätte lesen können! Nun erhält Emil abermals Briefe. Sie sind so kurz, ihr Inhalt ist so interessant! Wie gern möchte er den Versuch machen, sie zu entziffern! Bald findet er Hilfe, bald verweigert man ihm dieselbe. Er bietet alle seine Kräfte auf und entziffert endlich die Hälfte eines Briefchens. Es handelt sich um eine Einladung auf morgen zur frischen Milch. Er hat aber nicht herausgebracht, wohin und mit wem? Wie viel Anstrengungen läßt er es sich kosten, um auch das Uebrige herauszubuchstabieren! Ich glaube nicht, daß Emil einer Lesemaschine bedürfen wird. Soll ich etwa auch noch vom Schreibeunterricht reden? Nein, ich würde mich schämen, in einer Abhandlung über Erziehung die Zeit mit solchen Nichtigkeiten zu vergeuden.
Ein einziges Wort will ich noch hinzufügen, welches einen wichtigen Grundsatz ausspricht. Es lautet: Man erhält gewöhnlich das am sichersten und am schnellsten, was man ohne Ueberstürzung zu erlangen sucht. Ich bin fast überzeugt, daß Emil schon vor dem zehnten Jahre wird vollkommen lesen und schreiben können, gerade weil ich wenig Werth darauf lege, ob er es vor dem fünfzehnten lernt. Lieber aber wollte ich, er lernte nie lesen, als daß er diese Wissenschaft auf Kosten alles dessen, was sie ihm nützlich machen kann, erkaufte. Wozu soll ihm das Lesen dienen, wenn man es ihm völlig unleidlich gemacht hat? Id imprimis cavere oportebit, ne studia, qui amare nodum potest, oderit, et amaritudinem semel perceptam etiam ultra rudes annos reformidet. [23]
Je angelegentlicher ich für die Wahrheit meiner die Unthätigkeit verlangenden Methode eintrete, desto deutlicher sagt mir mein Gefühl, daß sich die Einwürfe gegen dieselbe verstärken werden. »Wenn dein Zögling nichts vondir lernt, wird er doch von Andern lernen, wenn du dem Irrthume nicht durch die Wahrheit vorbeugst, wird er Lügen lernen; die Vorurtheile, die du dich ihm einzuflößen scheust, wird ihm das Beispiel seiner ganzen Umgebung beibringen; durch alle seine Sinne werden sie in ihn eindringen. Entweder werden sie auf seine Vernunft, sogar noch ehe sie sich entwickelt hat, den schlimmsten Einfluß ausüben, oder sein durch lange Unthätigkeit erschlaffter Geist wird sich in der Materie verlieren. Die unterlassene Ausbildung der Denkkraft in der Jugend rächt sich in der ganzen übrigen Lebenszeit.«
Ich glaube, ich würde leicht darauf antworten
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