Emil oder Ueber die Erziehung
Philipp zum Besten. Er erzählte sie recht geläufig und mit großer Gewandtheit. Nachdem er die gewöhnlichen Lobsprüche eingeerntet hatte, zu denen die Mutter förmlich das Zeichen gab und die der Sohn allem Anscheine nach erwartete, wurde das Vorgetragene weiter besprochen. Die Mehrzahl tadelte Alexander’s Verwegenheit, einige bewunderten, dem Lehrer beipflichtend, seine Festigkeit, seinen Muth, woraus ich erkannte, daß auch kein Einziger der Anwesenden begriff, worin eigentlich die wahre Schönheit dieses Zuges besteht. »Was mich anlangt,« ergriff ichdas Wort, »so scheint es mir, daß, wenn sich in der Handlung Alexanders der geringste Muth, die geringste Festigkeit kund gäbe, sie nur einen hohen Grad von Ueberspanntheit verriethe.« Sofort stimmten mir Alle bei und räumten ein, es wäre eine Überspanntheit gewesen. Ich wollte antworten und begann schon in Hitze zu gerathen, als eine Frau, die an meiner Seite saß und den Mund noch nicht geöffnet hatte, sich gegen mein Ohr neigte und mir leise zuflüsterte: »Schweige, Johann Jacob, sie werden dich doch nicht verstehen.« Ich schaute sie an, stutzte und schwieg.
Da ich in Folge mehrerer Umstände den Argwohn hegte, daß mein junger Gelehrter von der so schön erzählten Geschichte gar nichts verstanden hätte, so nahm ich ihn nach Tische bei der Hand, promenirte mit ihm durch den Park und fand, nachdem ich ihn nach meiner Weise ausgefragt hatte, daß er mehr als irgend Jemand den so gepriesenen Muth Alexanders bewunderte. Aber wißt ihr wol, worin dieser Muth in seinen Augen bestand? Einzig und allein darin, daß jener einen widerlich schmeckenden Trank in einem Zuge, ohne abzusetzen und ohne den geringsten Widerwillen zu zeigen, verschluckte. Das arme Kind, welches vor noch nicht vierzehn Tagen hatte Arznei nehmen müssen, wozu es sich nur mit unendlicher Mühe verstanden hatte, fühlte den üblen Nachgeschmack noch immer auf der Zunge. Der Tod, die Vergiftung galten in seinem Geiste nur für unangenehme Empfindungen, und es konnte sich noch kein anderes Gift als Sennesblätter vorstellen. Indeß muß ich gestehen, daß die Festigkeit des Helden einen großen Eindruck auf sein junges Herz hervorgebracht hatte, und daß es fest entschlossen war, bei der ersten Medicin, die es wieder einnehmen müßte, sich Alexanders würdig zu zeigen. Ohne mich weiter auf Erklärungen einzulassen; die augenscheinlich seine Fassungskraft überstiegen hätten, bestärkte ich es in seinem lobenswerthen Entschlusse und trat den Rückweg an, während ich bei mir selbst die hohe Weisheit der Väter und Lehrer belächelte, welche sich einbilden, den Kindern Geschichte lehren zu können.
Es ist nicht schwer, den Kindern die Wörter »Könige,Reiche, Kriege, Eroberungen, Revolutionen, Gesetze« in den Mund zu legen, wenn es dann aber in Frage kommt, mit diesen Wörtern klare Ideen zu verbinden, so werden diese Erläuterungen mehr Mühe erfordern, als wir sie uns bei der Unterhaltung mit dem Gärtner Robert haben geben müssen.
Einige Leser, die mit dem »Schweige, Johann Jacob!« unzufrieden sind, werden mich, wie ich voraussehe, fragen, was ich denn nun eigentlich so Schönes in der Handlung Alexanders finde? Unglückliche! Wenn man es euch erst sagen muß, wie wollt ihr es dann begreifen? Das ist das Schöne, daß Alexander an die Tugend glaubte, daß er auf Gefahr seines Kopfes, auf Gefahr seines Lebens an sie glaubte, daß seine große Seele fähig war, daran zu glauben. O, welch ein schönes Glaubensbekenntniß spricht sich in der Anwendung dieser Arzenei aus! Nein, kein Sterblicher hat je ein erhabeneres abgelegt. Wenn unsere moderne Welt einen Alexander hervorgebracht hat, so möge man ihn mir an ähnlichen Zügen zeigen. [20]
Wenn es keine Wissenschaft gibt, die nur aus Wörtern besteht, so gibt es auch kein für Kinder geeignetes Studium. Wenn sie keine wirklichen Begriffe haben, so haben sie auch kein eigentliches Gedächtniß, denn mit diesem Namen vermag ich nicht die bloße Fähigkeit zu bezeichnen, erhaltene Eindrücke zu bewahren. Was für Nutzen bringt es, ihrem Kopfe einen ganzen Katalog von Zeichen einzuprägen, mit denen sie keine Vorstellung verbinden? Werden sie nicht, wenn sie erst die Dinge selbst lernen, auch gleichzeitig die Zeichen lernen? Wozu ihnen die unnütze Mühe machen, sie zweimal zu lernen? Und was für gefährliche Vorurtheile stößt man ihnen außerdem nicht gleich von Anfang an ein, wenn man ihnen Wörter, welche für sie keinen Sinn
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