Emil oder Ueber die Erziehung
Was bedeutet dieses Wort? Lehret einmal das Kind, so verschiedenartige Eigenschaften wie Stimme und Gefieder mit einander zu vergleichen, und ihr werdet bald bemerken, ob es euch versteht.
»Du mußt der Phönix unter den Gästen dieses Waldes sein.«
»Der Phönix!« Was ist ein Phönix? Plötzlich sehen wir uns durch diesen Ausdruck in das verlogene Alterthum, beinahe in die Mythologie versetzt.
»Die Gäste dieses Waldes!« Welche bildliche Redeweise!Der Schmeichler veredelt seine Sprache und gibt ihr, um sie verführerischer zu machen, mehr Würde. Wird ein Kind diese Feinheit herausfühlen? Weiß es nur, ja kann es überhaupt nur wissen, was ein edler und ein niederer Stil ist?
»Bei diesen Worten kennt sich der Rabe vor Freude nicht.«
Man muß schon sehr heftige Leidenschaften empfunden haben, um diese sprichwörtliche Redensart richtig aufzufassen.
»Und um seine Stimme zu zeigen,«
Vergesset nicht, daß das Kind, wenn es anders diesen Vers und die ganze Fabel verstehen soll, schon wissen muß, wie es mit der schönen Stimme des Raben bestellt ist.
»Sperrt er seinen Schnabel weit auf und läßt seine Beute fallen.«
Dieser Vers verdient in der That Bewunderung; schon der Klang der Worte allein gibt ein anschauliches Bild. Ich sehe im Geiste diesen großen häßlichen Schnabel weit aufgerissen vor mir, ich höre, wie der Käse prasselnd durch die Aeste hindurchfällt; allein für Kinder sind dergleichen Schönheiten verloren.
»Der Fuchs erhascht ihn und spricht: Mein guter Herr!«
Hier bedeutet also schon das »Gutsein« des angeredeten Herrn nichts weiter als »Dummsein«. Sicherlich wird man hierbei keine Zeit verlieren, um dies den Kindern deutlich zu machen.
»Lerne, daß jeder Schmeichler«
Eine allgemeine Regel; das ist eine allbekannte Sache.
»Auf Kosten dessen lebt, der ihm Gehör schenkt.«
Noch nie hat ein zehnjähriges Kind diesen Vers verstanden.
»Unzweifelhaft ist diese Lehre einen Käse werth.«
Dies ist verständlich, und der Gedanke ist sehr gut. Gleichwol wird es wol nur höchst wenige Kinder geben, die einen Käse mit einer Lehre zu vergleichen vermöchten und die nicht den Käse der Lehre vorzögen. Man muß ihnen daher verständlich machen, daß dies nur ein scherzhafter Ausdruck ist. Was für eine Feinheit für Kinder!
»Der Rabe, beschämt und bestürzt,«
Wieder ein Pleonasmus, und noch dazu ein unverzeihlicher.
»Schwor, allein etwas spät, daß man ihn nie wieder überlisten sollte.«
Schwor! Welcher Lehrer könnte so thöricht sein, daß er einem Kinde zu erklären wagte, was ein Schwur ist.
Das sind eine Menge Einzelheiten, aber noch lange nicht genug, um alle Begriffe dieser Fabel zu analysiren und sie auf die einfachen und elementaren Urbegriffe zurückzuführen, aus denen jeder derselben wieder zusammengesetzt ist. Aber wer hält solche Analyse wol für nothwendig, um sich der Jugend verständlich zu machen? Keiner unter uns ist Philosoph genug, um sich ganz auf den Standpunkt eines Kindes versetzen zu können. Laßt uns jetzt aber auch noch auf die Moral der Fabel übergehen.
Ich frage, ob man wol schon sechsjährige Kinder darauf aufmerksam machen darf, daß es Menschen gibt, welche um ihres Vortheils willen schmeicheln und lügen? Höchstens dürfte man ihnen mittheilen, daß es Spaßvögel gebe, die die kleinen Knaben aufziehen und sich im Geheimen über ihre thörichte Eitelkeit lustig machen. Indeß der Käse verdirbt Alles. Man lehrt sie weniger, ihn nicht aus ihrem eigenen Schnabel fallen zu lassen, als vielmehr, wie sie es anzustellen haben, daß er Anderen aus dem Schnabel falle. Das ist hierbei mein zweites Paradoxon, welches von nicht geringerer Wichtigkeit ist.
Gebet ihr auf die Kinder beim Lernen ihrer Fabeln Acht, so werdet ihr bemerken, daß ihre Deutung derselben, wenn sie überhaupt im Stande sind, sie auszulegen, fast regelmäßig eine der Absicht des Schriftstellers zuwiderlaufende ist, und daß sie, anstatt vor dem Fehler, von dem man sie heilen oder vor dem man sie bewahren will, auf der Hut zu sein, mehr Neigung verrathen, gerade das Laster lieb zu gewinnen, durch welches man aus den Schwächen Anderer Vortheil ziehen kann. Bei der obigen Fabel werden die Kinder den Raben verhöhnen, dem Fuchse dagegen ihr ganzes Interesse zuwenden. In der nächsten Fabel beabsichtigt ihr ihnen die Heuschreckengrilleals Muster aufzustellen; vergebliche Mühe, alle werden die Ameise wählen. Niemand demüthigt sich gern; sie werden deshalb stets
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