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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Erdkunde vertraut zu machen glaubt, lehrt man es nur die Karte kennen; man lehrt es die Namen von Städten, Ländern, Flüssen, welche nach seiner Auffassung nirgends anders als auf dem Papiere existiren, auf dem man sie ihm zeigt. Ich erinnere mich, irgend wo ein Geographiebuch gesehen zu haben, welches mit der Frage begann: »Was ist die Erde?« Antwort: »Sie ist eine Kugel von Pappe.« Genau so verhält es sich mit der Geographie der Kinder. Für mich gilt es als eine ausgemachte Thatsache, daß kein zehnjähriges Kind nach einem zweijährigen Unterrichte in der mathematischen und physischen Geographie sich nach den ihm ertheilten Regeln auch nur von Paris bis nach St. Denis zu finden weiß. Ja, noch mehr, ich bin völlig sicher, daß es kein einziges Kind gibt, welches im Stande wäre, nach einem Plane von dem Garten seines Vaters, ohne sich zu verirren, die Wege zu finden. So ist es mit diesen Gelehrten bestellt, die mit größter Genauigkeit anzugeben wissen, wo Peking, Ispahan, Mexiko und alle Länder der Erde liegen.
    Es ist mir auch die Behauptung zu Ohren gekommen, man müsse die Kinder nur mit solchen Studien beschäftigen, zu denen sie blos ihrer Augen bedürfen. Dieswürde etwas für sich haben, wenn es irgend eine Wissenschaft gäbe, zu der die Augen ausreichten; aber ich kenne keine solche.
    Aus einem noch lächerlicheren Irrthume hält man sie zum Studium der Geschichte an. Man meint, sie entspreche ihrem Fassungsvermögen, weil sie nur eine Sammlung von Thatsachen ist. Allein was versteht man unter diesem Worte Thatsachen? Glaubt man, daß die Beziehungen, welche die historischen Thatsachen hervorrufen, so leicht faßbar sind, daß sich die Vorstellungen von denselben im kindlichen Geiste ohne Mühe bilden? Glaubt man, daß die wahre Kenntniß der Begebenheiten von der Kenntniß ihrer Ursachen und Wirkungen getrennt werden könne, und daß der Historiker so wenig von der Moral abhänge, daß man ohne dieselbe zum Verständniß der Geschichte gelange? Wenn ihr in den Handlungen der Menschen nur äußere und zwar rein physische Bewegungen seht, welche Lehre könnt ihr dann aus der Geschichte ziehen? Auch nicht eine einzige. Und dieses, auf solche Weise jedes Interesses entkleidete Studium wird euch eben so wenig Vergnügen als Belehrung gewähren. Wenn ihr indeß diese Handlungen nach ihren moralischen Beziehungen würdigen wollt, so versuchet einmal, euren Zöglingen diese Beziehungen anschaulich zu machen, und ihr werdet alsdann erkennen, ob die Geschichte ihrem Alter angemessen ist.
    Die Leser mögen immer eingedenk sein, daß der, welcher hier zu ihnen spricht, weder ein Gelehrter, noch ein Philosoph ist, sondern ein schlichter Mann, ein Freund der Wahrheit, ohne Partei, ohne System, ein Einsiedler, welcher, da er nur im geringen Verkehre mit den Menschen steht, auch weniger Gelegenheit hat, ihre Vorurtheile anzunehmen, jedoch um so mehr Zeit, über das nachzudenken, was ihm im Umgange mit denselben auffällig erscheint. Meine Schlußfolgerungen gründen sich weniger auf Principien als auf Thatsachen, und ich glaube meine Leser nicht besser in den Stand setzen zu können, sich selbst darüber ein Urtheil zu bilden, als indem ich ihnen öfter Beispiele von Beobachtungen mittheile, denen ich sie zu verdanken habe.
    Ich brachte einst einige Tage auf dem Lande bei einer braven Hausmutter zu, welche sich im hohen Grade ihre Kinder und deren Erziehung angelegen sein ließ. Als ich eines Morgens dem Unterrichte des ältesten Knaben beiwohnte, besprach sein Lehrer, der ihm in der alten Geschichte einen guten Unterricht ertheilt hatte, bei der Wiederholung der Geschichte Alexanders des Großen jenen bekannten Vorfall mit dem Arzte Philipp, welchen man schon öfter bildlich dargestellt hat und der auch sicherlich diese Ehre verdient. [19]
    Der Lehrer, im Uebrigen ein recht verdienstvoller Mann, knüpfte einige Betrachtungen über die Unerschrockenheit Alexanders an, die mir nicht gefielen, die ich jedoch zu bekämpfen Bedenken trug, um den Lehrer nicht in den Augen seines Zöglings herabzusetzen. Bei Tische ließ man nach französischer Sitte das kleine Männchen unaufhörlich schwatzen. In der natürlichen Lebhaftigkeit seines Alters und in der Erwartung sicherlich nicht ausbleibenden Beifalls trug er tausenderlei Dummheiten vor, wobei denn von Zeit zu Zeit auch einige glückliche Einfälle zum Vorschein kamen, die das Uebrige in Vergessenheit brachten. Zuletzt gab er auch noch die Geschichte vom Arzte

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