Emil oder Ueber die Erziehung
die schöne Stelle für sich in Anspruch nehmen. Die Eigenliebe trifft hier die Wahl, und deshalb ist es eine natürliche Wahl. Aber, aber – welch’ eine entsetzliche Lehre für die Kinderwelt! Ein habsüchtiges und hartherziges Kind, welches wüßte, um was man es bittet, und es abschlägt, trotzdem die Erfüllung in seiner Hand liegt, wäre das hassenswertheste aller Ungeheuer. Die Ameise thut noch mehr, sie lehrt es seine Weigerung in Spott und Hohn zu kleiden.
In allen Fabeln, in welchen der Löwe eine Rolle spielt, die gewöhnlich die glänzendste ist, wird das Kind nie verfehlen, sich an seine Stelle zu versetzen, und hat es nun einmal eine Theilung vorzunehmen, so trägt es, durch sein Vorbild gut geschult, lediglich Sorge, sich des Ganzen zu bemächtigen. Wenn jedoch die Mücke den Löwen zu Falle bringt, dann ist es eine ganz andere Sache, dann ist das Kind nicht mehr Löwe, sondern Mücke. Dadurch lernt es einst diejenigen mit Nadelstichen zu tödten, die es festen Fußes nicht anzugreifen wagt.
Aus der Fabel von dem mageren Wolfe und dem fetten Hunde lernt es nicht Mäßigung, die ihr ihm darin ans Herz legen wollt, sondern Zügellosigkeit. Nie werde ich vergessen, wie bitterlich ich einst ein kleines Mädchen weinen sah, welches man durch diese Fabel in halbe Verzweiflung gebracht hatte, weil man ihm nach Anleitung derselben immer nur von der Folgsamkeit vorpredigte. Man konnte sich Anfangs gar nicht die Ursache dieser Thränen erklären, bis man endlich dahinter kam. Das arme Kind hatte sich so in die Rolle des Hundes hineingelebt, daß es endlich überdrüssig wurde, beständig an der Kette zu liegen; es fühlte seinen Hals schon förmlich wund; es weinte, daß es nicht der Wolf sein durfte.
Sonach liegt also in der Moral der zuerst angeführten Fabel für das Kind eine Anleitung zu der niedrigsten Schmeichelei; in der der zweiten eine Aufforderung zur Herzlosigkeit, in der der dritten eine Anpreisung der Ungerechtigkeit, in der der vierten eine Unterweisung in derKunst zu spotten und in der der fünften ein Ansporn zur Unabhängigkeit. Diese letztere Anregung ist für meinen Zögling eben so überflüssig wie für die eurigen ungeeignet. Wenn ihr ihnen Vorschriften ertheilt, die sich unter einander widersprechen, was für Früchte hofft ihr dann wol aus euren Bemühungen hervorsprießen zu sehen? Indeß liegt vielleicht gerade in der Moral, um derentwillen ich die Fabeln verwerfe, für euch der Grund sie beizubehalten. Man braucht im gegenseitigen Verkehr eine Moral für seine Worte und eine für seine Handlungen und diese beiden sind durchaus von einander verschieden. Die erstere steht im Katechismus, worin man sie ruhig läßt; die andere dagegen steht in Lafontaines Fabeln für die Kinder und in seinen Erzählungen für die Mütter. Der nämliche Schriftsteller reicht für Alles aus.
Vergleichen wir uns mit einander, Herr von Lafontaine! Ich für meine Person verspreche, Sie mit Auswahl zu lesen, Sie zu lieben und mich aus Ihren Fabeln zu belehren; denn ich hoffe mich über Ihre Absichten nicht zu täuschen; was aber meinen Zögling anlangt, so müssen Sie mir gestatten, daß ich ihn nicht eine einzige lernen lasse, bis Sie mir den Beweis geliefert haben, daß es für ihn gut ist, Dinge zu lernen, von denen er nicht den vierten Theil versteht; daß er ferner für diejenigen, die er begreifen kann, auch wirklich das richtige Verständniß zeigt und sich nicht etwa den Betrüger zum Vorbild nimmt, anstatt sich den Betrogenen zur Warnung dienen zu lassen.
Indem ich die Kinder mit allen solchen Arbeiten verschone, halte ich auch die Werkzeuge ihrer größten Plage, nämlich die Bücher, von ihnen fern. Das Lesen ist die Geißel der Kindheit, und fast die ausschließliche Beschäftigung, die man ihr zu geben weiß. Kaum in seinem zwölften Jahre soll Emil wissen, was ein Buch ist. Aber, wird man einwenden, er wird doch wol wenigstens lesen lernen müssen. Das gebe ich zu, aber er soll erst dann lesen können, wenn ihm das Lesen Nutzen bringt; bis dahin kann es ihm nur Langeweile bereiten.
Wenn man nicht verlangen darf, daß die Kinder etwas nur aus Gehorsam thun, so folgt hieraus, daß sie auchnichts lernen können, dessen wirklichen und augenblicklichen Vortheil sie nicht einsehen, bestehe derselbe nun in Vergnügen oder Nutzen; was sollte sie wol sonst für ein Beweggrund zum Lernen antreiben? Die Kunst, mit Abwesenden zu reden und sie zu verstehen, die Kunst, ihnen aus der Ferne unsere
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