Emil
Blick heben konnte.
Die Stadt
Ein Weg aus Schotter und nassem Sand. Schon seit Tagen vom Regen gepeitscht. Was einmal ein gepflasterter Weg war, ist nun ein Flussbett voller Schlamm. Hagelkörner prasseln auf steinharte Erdbrocken. Am Horizont vereinzelte Bäume. Gräue. Und Strommaste. Zerrissene Kabel. Der Regen fällt schräg und heftig. Von Zeit zu Zeit Donner oder Blitze. Offene, weite Felder. Nach allen Richtungen hin ist es grau. Und neblig. Das Sonnenlicht dringt nicht durch. Die Wolken hängen schwer, ballen sich in dicken Schichten am Himmel. Offenes Feld von Horizont zu Horizont. Leere, völlige Leere. Nur der Regen fällt. Wo sind alle? Wo verstecken sie sich? Hallo! Hallo! Ist da jemand in diesen Häusern? Hallo! Hallo! Weiß jemand, was passiert ist? Hallo! Hallo! Hallo! Wo sind wir, was ist dieser Ort? Hallo! Hallo! Hört ihr? Hört mich überhaupt jemand?
Joel – Emil
Nach dem Aufwachen blieb Joel ein Weilchen im Bett liegen. Was ist das für ein Geräusch, dachte er, als würde eine Maus im Kleiderschrank rumoren? Früh, es ist noch früh, dachte er, noch früh. In der Tat. An einem Wintertag des Jahres 1988 war Emil am Morgen aufgestanden und gerade dabei, eine Reisetasche zu packen. Kurz danach wachte Joel von dem Lärm auf, der aus dem mit der Zeit zum Abstellraum umfunktionierten ehemaligen Arbeitszimmer von Lea kam, und ging nachsehen, fragte Emil, Was ist los, fünf Uhr früh, und ohne den Blick von der Tasche zu heben, entgegnete Emil: Heute ist der Tag, und Joel fragte noch mal, Was für ein Tag, hab ich was vergessen? Emil hob nun seinen Blick prüfend zu Joel hin, um zu sehen, ob er sich nur verstellte oder scherzte, doch nein, es war ihm Ernst, er erinnerte sich wirklich nicht, und ohne recht zu wissen, wie er damit umgehen solle, holte Emil tief Atem und sprach in die Reisetasche hinein: Papa, die Armee. Heute rücke ich ein. Ich hab dir doch erst gestern gesagt, dass es morgen ist, und schon zigmal davor, was tust du so erstaunt. Als Emil, über seinen Zorn verlegen, auflachte, wurde Joel wütend: Was gibt es da zu lachen?, und sagte, Nein, nein, du hast gesagt, ›es ist morgen‹, und ich hab gedacht, du meinst, was weiß ich, ein Fußballspiel, ich war zu träge, um nachzufragen, du hast gesagt, ›es ist morgen‹, und ich hab’s nicht kapiert, ich war zerstreut. Wann also, fragte Joel, wann geht’s los? Und Emil ließ sich auf den Boden sinken und legte die Hände über dem Kopf zusammen. Heute, sagte er fast tonlos. Wann?, fragte sein Vater, als habe er nicht gehört. Wann? Morgen? –
Zwei Stunden später, nachdem er Emil zum Rekrutierungszentrum gefahren hatte, hatte Joel in der Küche gesessen, die Autoschlüssel noch in der Hosentasche. Er hatte nicht gewusst, ob er aussteigen, ihn begleiten sollte, bis zu welchem Punkt es überhaupt gestattet sei, ihn zu begleiten, bis zur Einkleidung in die Uniform, zur Impfung, sicher impft man sie, man wird mir vielleicht sagen, ›Halten Sie ihn schön fest, damit er still sitzt,
Abba’le
‹, wie damals, als er klein war. Vielleicht bis zur Verleihung des Dienstgrades, sicherlich näht man ihnen ein Abzeichen auf und händigt ihnen das Gewehr aus, vielleicht dürfen die Eltern heutzutage noch weiter mit, vielleicht bis vor das Eingangstor der Rekrutenbasis, dachte er. Aber als Emil ausgestiegen war, ließ Joel den Motor laufen, winkte ihm vom Fahrersitz aus zum Abschied zu, und Emil sah ihn einen Augenblick lang an, und als ihm bewusst wurde, dass er von nun an auf sich gestellt war, sagte er: ok, dann mal auf Wiedersehen, und Joel sagte, Ruf an, wenn du kannst, und Emil sagte, Fährst du von hier direkt nach Hause zurück?, und Joel entgegnete, Vielleicht halte ich irgendwo an, um zu frühstücken, ich kenne da –, doch schon hupten hinter ihm Autos mit anderen Rekruten, die endlich vorfahren, die Sache in Gang bringen, den dahinbrausenden Zug des Soldat-Werdens nicht versäumen wollten. So machte er die Kreuzung frei und fuhr weg, und als er die Scheibenwischer abgestellt hatte und im Rückspiegel nach Emil suchte, standen da nur ein paar Soldaten.
Joel fuhr nach Hause, war fast ohne es zu bemerken schon angekommen, ging hinauf, um sich Tee zu bereiten, doch aus irgendeinem Grund wollte das Wasser nicht kochen, der Teebeutel dümpelte im lauwarmen Wasser, und als er einen Schluck nahm, musste er ausspucken. Beim Öffnen stieß die Kühlschranktür an seinen Fuß, und Eiswürfel rollten ihm über die Zehen, und schließlich
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