Emil
Herd abgelegten Pfannen und Töpfe hinweg. Er wusch sich das Gesicht über der Küchenspüle und trocknete sich die Augen mit dem fettigen Geschirrtuch. Mit wutverzerrter, drohender Miene trat er nahe an das Bild heran. Als er sich brüsk abwandte, wurde er des Nachbarn gewahr, der ihn von gegenüber durch die Jalousie beobachtete.
[ ]
Einige Monate vor Joels Rekrutierung im Sommer 1988 sah [ ] eine festliche Zeitungsreportage anlässlich der Einberufung des Jahrgangs und sagte ihrem Mann, Er ist achtzehn, an Pessach haben wir seinen Geburtstag gefeiert, jetzt rückt er sicher ein. Ich sehe ihn in Uniform. Ich sage dir, diesen Sommer geht er zur Armee, im Sommer ziehen sie alle ein. Und ich sage dir, sie werden einen dunklen Jungen sehen und ihn in eine Kampfeinheit stecken. Zur Panzertruppe oder zur Grenzpolizei. Man wird ihm eine Waffe in die Hand geben. Es muss etwas geschehen. Man muss ihn da rausholen.
Ihr Mann sah sie mit vor Erstaunen offenem Mund an. Er hörte zu spielen auf. Als er die Oud auf den Boden legte, gab sie einen dumpfen Laut von sich.
In den folgenden drei Jahren verfolgte sie in der Zeitung die Namen der Gefallenen, Verwundeten und betrachtete ihre Bilder. Eines Tages, war sie gewiss, würde sie sein Bild sehen und ihn sofort erkennen. Auch wenn er … hieße. Es gelang ihr nicht, einen anderen Namen für ihn zu erfinden. Jeder Name war ein schlechter Name.
Drei Jahre lang. Tag für Tag. Sie prüfte die Geburtsdaten aller Gefallenen und Verwundeten. Gab es mal einen Tag, an dem niemand zu Schaden kam, überkam sie eine große Erleichterung. Sie fertigte eine Liste an. Drei Jahre lang. Und dann noch ein weiteres Jahr. Für den Fall, dass er doch erst später eingerückt war.
Als ein Jahr vergangen war, sah sie nach irgendeiner ›bedeutenden Militäraktion‹ ein Bild und sagte (wie auch mehrmals davor und danach): Das ist er. Ganz sicher. Er sieht [ ] ähnlich. Sehr ähnlich. Sie sah nach, zu welcher Uhrzeit das Begräbnis angesetzt war. Plötzlich war da eine große Klarheit. In der Zeitung stand, geboren an Pessach 1970. Ihr Herz sackte zwischen den beiden Lungenflügeln hinab, verbrannte das Innere ihres Körpers. Dass er ein Adoptivkind war, stand wider Erwarten nicht da. Auch in den anderen Zeitungen nicht. Klar doch, das Kind ist tot, wozu es noch erwähnen. Er war es. Er war es. Sie las seinen neuen Namen. Es gelang ihr nicht, ihn im Gedächtnis zu behalten. Ihrem Mann erzählte sie nichts. Er wollte von diesen Dingen nichts hören, wollte die schiere Möglichkeit gar nicht in Betracht ziehen. Immer wieder versenkte er sich in langsame Improvisationen.
In der Armee, na und. Mit einer kleinen Nagelschere schnitt sie die Traueranzeige aus. Am nächsten Morgen war sie die erste in der Militärabteilung. Saß da unter dem Baum neben dem großen Wasserhahn.
Dann kam der Sarg. Die Familie in Schwarz, die Gesichter tränenüberströmt und gerötet. Uniformierte mit dunklen Sonnenbrillen. Auf den Köpfen Kippot, denen man an den Knitterfalten ansah, dass sie doppelt gefaltet gewesen waren. Der Rand des Wasserhahns war nass, als rinne von ihm Speichel herab.
Ebenfalls schwarz gekleidet, mischte sie sich unter die Familie, und ihr Weinen verschmolz mit dem ihren. Seitlich stützten sie wehklagende Anverwandte. Niemand kannte sie. Niemand fragte.
Einmal hatte sie sich im Freien in einem Café in Haifa sitzend wiedergefunden. Vor ihr auf dem Tisch zwei gläserne Aschenbecher voller Zigarettenkippen und schmutziggrauem Wasser. Sie hatte nicht begriffen, was mit ihr los war. Bis eine Frau vorbeiging und sie darauf aufmerksam machte, dass sie im Regen saß.
Wie üblich Gewehrsalven in die Luft. Der Kommandeur hielt die Trauerrede.
Nach der Trauerfeier folgte sie der Familie zu einem privaten Autobus. An der Tür standen zwei Soldaten. Mit gesenktem Kopf stieg sie die Stufen hinauf. Drinnen saßen Soldaten mit geladenen Gewehren. Sie wollte sie etwas fragen. Aber was genau. Sie kamen in die düstere Wohnung. Das Fernsehgerät stand verkehrt herum, die Oberseite nach unten. Ungewaschene Früchte standen auf dem Tisch, Teppiche eingerollt in den vier Ecken des Wohnzimmers. Ein vergrößertes Bild des Kindes. Mit Trauerrand. An der Wand. War er das? Vielleicht. Sicher nicht. Vielleicht. Kein Zweifel, dass … nein. Fast zwanzig Jahre waren vergangen. Sie konnte sich unmöglich ganz sicher sein. Sie klammerte sich an ein Restchen Hoffnung wie an einen Strohhalm. Doch sie hatte ihre Finger bereits
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