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Emil

Emil

Titel: Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Burstein
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trank er kochendheißen Tee, ›mordsheißen Tee‹ pflegte sein Vater Amikam zu sagen, und als er auf seinen Handrücken spuckte, verbrannte er sich auch da, und als er den Kopf hob, stieß er ihn an der Schrankkante an.
    Der Armeefriseur, Dienstgrad Stabsfeldwebel, fragte mit einem Blick auf Emil: Kurz schneiden? Wie hättest du’s gern?, und Emil sagte, Lass so viel dran, wie’s nur geht, und grinsend entgegnete der Friseur, Hab dich nur auf den Arm genommen, Idiot. Die Schermaschine hier schneidet alles, so kurz es nur geht, und drückte einen Kuss auf sein Gerät. Ein anderer Friseur tat freundlich, während er sich damit abmühte, den Rastalocken eines deprimiert in sich zusammengesunkenen Rekruten den Garaus zu machen: Frag nicht, wo deine Haare hingehen. Frag nicht. Du willst es lieber nicht wissen. Die Armee liebt eure Haare, meine Süßen, und klopfte das riesige Haarschneidegerät gegen den Tisch von den Haaren frei. Wie eine Schermaschine für Schafe, dachte Emil. Gsss, gsss.
    Und in der Küche dachte Joel, vielleicht gibt’s noch eine Chance, vielleicht wird es nicht passieren, vielleicht ist es nur Prä- – Prä-liminarien, Prärekrutierung, vielleicht teilen sie ihn zu einem Kurs ein, sicher kommt er heute noch nach Hause, sicher nur eine Abgleichung seiner Daten, Impfung, ärztliche Untersuchung … Er sah Emils Bild an, das neben dem Leas an der Küchenwand hing. 1970 geboren, 1988 Uniform und Waffe. Wer ist das überhaupt, flüsterte er, wie kommt es, dass er mit einem Mal achtzehn ist? Wo waren wir gestern? Was war gestern? Er konnte sich plötzlich an nichts erinnern. Alles war wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Was war denn gestern gewesen? Und letzte Woche? Er erinnerte sich nicht. Er fühlte seitlich im Bauch, wie ihn ein Schmerz durchzuckte, und stellte fest, dass der Tee nun völlig erkaltet war. Was zieht man sie dauernd zum Armeedienst ein, sagte er brüsk zum Gasherd.
    Der Friseur klappte den großen Mülleimer zu und hockte sich auf ihm nieder. Joel sprang auf und begann, mit raschen Schritten in der Wohnung umherzulaufen. Emil sah auf die Uhr. Es war zehn Uhr morgens. Die Heizung lief auf Hochtouren. Wie lange würde es dauern? Eine halbe Stunde, eine Stunde vielleicht. »Rekrutierungsprozedur«, hatte man ihnen gesagt. Vorläufig standen sie herum. Es gab offensichtlich ein Problem mit den Tornistern. Man hatte ihnen aufgetragen, sich die Tornister zu holen, doch das Ausrüstungsdepot war geschlossen. Der Verantwortliche war krankgeschrieben. Wartet vorläufig hier. Die Haarreste in seinem Nacken störten ihn und er versuchte, sie abzuschütteln. Doch der Friseur hatte ihn mit irgendetwas eingesprüht, und die Haare klebten an ihm wie Blutegel. Als einer von ihnen sich hinzusetzen versuchte, ertönte sofort ein gebrülltes ›Nicht hinsetzen, was soll das, auf die Beine!‹. Sicher sitzt er jetzt in einer Imbissstube in Or Jehuda und isst einen Grillspieß, dachte er. Daheim isst er Gemüse, auswärts gegrilltes Fleisch. Daheim rohen Kohlrabi, auswärts Leberspieß. Er fühlte, auch wenn er es noch nicht völlig verstand, dass seine Rekrutierung ihn unwiederbringlich von seinem Vater losgerissen hatte, auch wenn er heute oder morgen oder am Wochenende nach Hause zurückkehren würde – mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er zum ersten Mal in seinem Leben keine Ahnung hatte, wo er die Nacht verbringen, wo er schlafen würde – denn die Art und Weise, in der er heute von zu Hause weggegangen war, bedeutete für sein Leben einen Riss, der nicht mehr zu kitten war, und dass sein Vater, der den nahenden Wehrdienst in den letzten Monaten ausgeblendet, seinen Kopf in den Sand gesteckt und es ganz offensichtlich vorgezogen hatte, in vollem Ernst von der Einberufung überrascht zu sein, ja, sie buchstäblich fast zu verschlafen, dass also sein Vater einzig und allein schuld an seiner Situation war, daran, dass er hier in diesem stinkenden Raum stand – einer der Rekruten hatte einen Furz gelassen und ein anderer hatte ihm wie ein Echo geantwortet, zu seiner Linken gab es großes Gelächter –, und Emil fühlte, er hätte Joel, wäre er ihm jetzt unter die Hände gekommen, den Hals umdrehen, ihn wahrhaftig erwürgen können. Bei diesem Gedanken erschrak er vor sich selbst, der sich sonst mit angehaltenem Atem versteckte, wenn er in der Wohnung eine Maus entdeckte. Es gelang ihm nicht gleich, seinen Hass zu unterdrücken. Plötzlich war da wieder die Maus. Rannte, hüpfte, stürmte

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