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Emil

Emil

Titel: Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Burstein
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Doch um es ihr nicht schwer zu machen, sagte er, ja, es geht vorbei. Ich bin ins Leben zurückgekehrt. Ihre Finger schlossen sich etwas fester um die seinen. Was für einen Fehler du begangen hast, sagte er. In einen Aufzug einsteigen, bevor die Genehmigung des Ingenieurs da ist. Wäre ich nur mit dir gekommen. Und er wollte ihr sagen, dass er ihr den Fehler verzeihe, doch es gelang ihm nicht, die Worte auszusprechen. Wenn ich nur mitgekommen wäre. Vielleicht hatte sie nicht auf den Halteknopf gedrückt. Vielleicht hatte sie auf die Glocke statt auf Halt gedrückt. Hör mal, sagte er ihr, so einen Fehler macht man einfach nicht … du warst doch in allem so verantwortungsbewusst. Die Rechnungen hast du überprüft. Den Gashahn zweimal zugedreht. Das Licht ausgeschaltet. Das Kleingedruckte auf den Lebensmittelpackungen gelesen. Alle Rechnungen hast du zwei Wochen vor dem Termin bezahlt. Nicht im letzten Augenblick. Bist eigens zum Postamt gegangen, um zu bezahlen. Hast die Rechnungen im Ordner abgeheftet. Wie konntest du also. Wie nur. In einen Aufzug steigen in einem Gebäude, das noch nicht fertiggestellt ist. Die Blumen hast du sonntags, dienstags, donnerstags gegossen. Wie konntest du. Wieso hast du dich nicht vorgesehen. Du hattest doch ein sechsjähriges Kind.
    Die Socken hielten sich an Joels Fingern fest. Die Vögel zwitscherten wie frühmorgens. Lea gab keine Antwort.

Die Stadt
    Die ganze Stadt hebt den Kopf zum blauen Himmel, und ein Schatten, groß wie eine Mondfinsternis, fällt auf die Stadt, auf den Kontinent, und in den letzten Sekunden ihres Lebens ist der Anblick, der sich ihnen bietet, schrecklich und schön zugleich, ein fremder Gast, nicht von einem anderen Stern, denn der andere Stern selbst ist der Gast, ein Komet oder Asteroid, der die Atmosphäre zerreißt, die Meere verdampfen lässt, wie eine führerlose Lokomotive heranrast, Millionen sehen ihn und weitere Millionen auf den Bildschirmen, und ein einziger Gedanke milliardenfach multipliziert, das ist ein Traum, bloß ein Traum, gleich werden wir aufwachen. Nirgendwo anders kann man hinblicken als auf den Himmel, den man bereits von der Außenseite sieht, man weiß und sieht es. Und nachts ist es wie ein Pfeifen, das aus den Wolken steigt. Seit Monaten hatten alle bereits gewusst, dass es geschehen würde, die Berechnungen waren einwandfrei, Stunde und Ort des Einschlags waren genau bekannt, Wissenschaftler veröffentlichten Länge und Breite, Künstler errichteten am Ort des erwarteten Aufpralls riesige Skulpturen und stellten Kameras auf, Gymnasiasten fassten die Daten in Formeln und beteten um ein Wunder, doch alle Berechnungen zeigten dasselbe Ergebnis, Irrtum ausgeschlossen. Man wusste den Namen der Stadt, und die Bewohner hätten evakuiert werden sollen, doch sie blieben vor Ort. Manche, weil sie den wissenschaftlichen Prognosen nicht ganz trauten – doch die meisten, um es mit anzusehen.

[ ]
    Ein Kind überquert die Straße, betritt die Wohnung gegenüber, verschwindet aus dem Blickfeld, und schon ist sein Leben nicht mehr dasselbe. Am Anfang, dachte er, ist das Kind anders als die Adoptiveltern. Es ist nicht an sie gewöhnt. Doch dann schließt sich die Wunde, wie ein Schnitt in der Haut. Nach einigen Monaten, vielleicht sogar nach einigen Tagen. Dann verändern sich die Eltern allmählich und auch das Kind verändert sich, bis sie sich in der Mitte treffen. Wie drei Sterne. Nein: zwei Planeten und ein Mond, dachte er. Hob seinen Kopf zum Himmel. Zum Schluss stabilisiert sich das System, die Schwerkraft legt die Regeln fest. Der Mond umkreist sie und sie umkreisen einander. Und der leibliche, wirkliche Vater glüht in der Ferne und spendet ihnen Wärme. Wie die Sonne. Aus sehr weiter Ferne. Und die Jahre vergehen. Statistisch gesehen, dachte er, treffen das Kind und die Eltern, die es zur Adoption freigegeben haben, wenn sie in derselben Stadt wohnen (dass es so war, konnte er nicht wissen, doch ein sehr starkes Gefühl sagte es ihm), alle paar Jahre aufeinander. Es besteht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass sie im selben Bus fahren. Sogar nebeneinander sitzen. Oder gar – mit geringer Wahrscheinlichkeit –, dass das Kind seinen Sitzplatz einem der Elternteile zur Verfügung steht, ohne es zu wissen, dass sie seine Eltern sind. Und im Bus sieht jemand, gerade ein Fremder, dass sie sich ähneln, dass sie Vater und Sohn sind. Gibt es denn etwas Natürlicheres als Vater und Sohn, die miteinander im Bus fahren? Daher sagt niemand

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