Emilia - Herzbeben
wieder als eine Einheit wahr. Das Dumme ist nur, dass wir dann nicht mehr von den Menschen, die sich immer noch getrennt von allem fühlen, wahrgenommen werden können. Wir sind immer noch da, immer noch ein Pigment, immer noch Teil des Gemäldes, aber wir sind unsichtbar geworden. Unsichtbar für diejenigen, die in der Polarität leben. Manche Menschen können einen Blick in die nichtpolare Welt erhaschen oder hinein horchen. Dann hören sie Stimmen aus dem Jenseits oder sehen Pigmente, die gestorben sind. Aber diese Wesen«, er deutete auf einmal auf den Fußboden, »die Schatten, die Vampire und … naja, ihr wisst schon wer, nehmen nur und ausschließlich«, er hob den Zeigefinger, »die Trennung der Polarität war. Sie sind daraus entsprungen. Wesen, die sich mit der Einheit verbinden, auf welche Weise auch immer, können sie nicht sehen, nicht spüren, nicht angreifen. Das ist es, was ich tue. Ich verschmelze die persönliche Struktur eines Individuums mit der Einheit. Dadurch kann das geschützte Wesen nicht mehr gefunden werden. Es wird unsichtbar.« Jetzt holte er tief Luft. »Und deshalb brauche ich die ganz persönliche Strukturdieses Mädchens.
Sylvia und Soraya seufzten nach dieser langen Rede und deutete auf das Buch. »Mehr haben wir nicht.«
Nouel hob schnaubend den Buchdeckel an und runzelte die Stirn. »Ein Tagebuch?«
Jetzt schlug Sylvia auf einmal auf den Einband und klappte das Buch damit zu. »Wenn jemand in meinem Tagebuch lesen würde«, sagte sie drohend, »würde ich zur Mörderin werden. Ich denke, ihr geht es da sicherlich genauso.«
Nouel hob die Hände. »Mondieu, schon gut! Das konnte ich ja nicht wissen. Es ist nur … Nun gut, es wird ausreichen. Ein Tagebuch ist etwas sehr Persönliches.« Er legte eine Hand darauf und schloss die Augen. In der anderen Hand hielt er den Anhänger fest. Dann zog er wieder die Stirn kraus. Als er beim nächsten Mal die Augen öffnete, sah er die Mädchen mit ernster Miene an und sagte nachdenklich: »Das ist merkwürdig.« Er ließ den Blick auf das Buch sinken und streichelte wieder über das Herz. »Die Struktur dieses Mädchens, sowohl ihr Körper als auch ihr Geist, ist bereits dabei mit der Einheit zu verschmelzen.« Er machte auf einmal ein sehr trauriges Gesicht. »Sie ist noch so jung.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte Soraya besorgt.
Nouel sah mit einem betretenen Gesichtsausdruck auf. »Sie … stirbt.«
32
Mia schritt durch eine prunkvolle und hell erleuchtete Halle. Von der Decke hingen Kristallkronleuchter, deren viele kleine Lichter sich im Marmorboden spiegelten und darin leuchteten wie hunderte kleine Lämpchen. Es war, als ginge sie über ein Sternenmeer. An den seitlichen Enden führten große, mit roten Teppichen belegte Treppen nach oben auf eine Ebene, von der man nur einen Balkon sehen konnte, der die beiden Treppen miteinander verband. Er ragte über den riesigen offenen Türbogen, der in eine weitere Halle führte. Aus dieser Halle hörte sie jetzt Stimmen. Die Männer in den schwarzen Mänteln führten sie darauf zu, doch sie wurde immer langsamer. Die Stimmen waren laut. Sie donnerten ebenso durch ihren Körper, wie die Stimmen ihrer Entführer. Doch sie sprachen eine fremde Sprache. Mia atmete tief ein. Sie hatte die Schatten nicht gefürchtet und auch diese Vampire in der seltsamen Kluft nicht, als sie auf dem Schiff aufgetaucht waren, aber jetzt bekam sie zum ersten Mal richtig Angst. Sie wollte diese Halle nicht betreten. Sie wollte nicht. Sie spürte, dass dort etwas war, womit sie nicht konfrontiert werden wollte. Als sie jedoch zu langsam wurde, schob einer der Männer sie an. Die Stimmen wurden immer lauter. Und zwischen ihrem donnernden Klang hörte sie noch eine andere Person sprechen. Sie klang leiser. Sanfter. Ja geradezu weich wie Butter und anschmiegsam wie Seide. Sie legte sich wie ein Balsam auf ihren nervösen Körper und hielt sie erneut davon ab, weiterzugehen. Doch es war zu spät. Sie schoben sie jetzt durch den Türbogen und in diesem Moment erfasste ihr Blick eine Gruppe von Männern. Vier von ihnen sahen ihren Entführern verblüffend ähnlich. Nicht nur, dass sie dieselbe Kleidung trugen, auch ihre Gesichter glichenihnen so sehr, dass einen sofort der Gedanke beschlich, sie seien alle verwandt. Nur der fünfte sah vollkommen anders aus. Er stand in ihrer Mitte und stach daraus hervor wie eine Statue aus Gold. Er hatte langes, blondes Haar, das im Licht der Kronleuchter schimmerte wie eine
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