Emilia - Herzbeben
Gefühle. Sie war schon fast nicht mehr da. In diesem Moment legte Mia ihre Stirn gegen ihre und schloss die Augen. Sie würde das nicht einfach so hinnehmen. Wenn sie das Kind des Teufels war, dann war sie alles, wovor sich die Menschen fürchteten. Das war sie schon immer gewesen. In ihr blitzen in Bruchteilen von Sekunden Szenen aus ihrem Leben auf. Menschen, die Angst vor ihr hatten, vor ihrer Ausstrahlung, vor ihrem Aussehen, vor ihrer Wut. Sie sah den Jungen wieder vor sich, der sich in die Luft gehoben hatte. Voller Todesangst. Mitten in einem Unwetter, das die Menschen ebenso fürchteten. Sturm, Dunkelheit, Hagel, Kälte. Auch die erste Nacht in ihrer neuen Heimatstadt tauchte in ihrem Kopf auf, als sie am Fenster gestanden hatte und den Regen und den Nebel angezogen hatte, wie ein Magnet. Die roten Augen, die sie im Spiegel gesehen hatte, die erschrockenen Gesichter ihrer Freunde, der Nebel, der das Busunglück verursacht hatte, die herabregnenden Medizinbälle und die Flammen der Kerzen in dieser Halle, die sich zu ihr hin gebogen hatten. Sie war die Angst. Sie war alles, was den Menschen Angst machte. Das war ein Teil ihres Wesens. Und so, wie sie in ihrem Traum das Unwetter gewesen war, das den Jungen fast umgebracht hatte, war sie auch das, was den Menschen am meisten Angst einjagte: Der Tod. Er gehörte ihr. Und sie konnte darüber bestimmen. Sie würde nicht zulassen, dass er sich Sylvia einfach nahm. Stattdessen nahm sie sich ihn . Sie nahm ihn ihr einfach weg. »Du gehörst mir«, hauchte sie ihr auf die Lippen. »Mir ganz allein.« Sie nahm ihn insich auf, atmete ihn ein, als würde sie pure Energie inhalieren und spürte, wie in diesem Moment ihr Körper begann vor Kraft zu beben. Es fühlte sich an, als würde sich etwas in ihr vereinen. Jeder Widerstand löste sich auf, Leben und Tod verschmolz miteinander, Trennungen hoben sich auf und alles wurde eins. Es fühlte sich an, als würde sie sich auflösen und mit der Welt verschmelzen. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte Sylvia sie an. Voller Überraschung. Mia wich mit dem Kopf zurück, nahm ihre Hand von ihrem Hals und sah, dass er vollkommen verheilt war. Das Blut klebte an ihrer Hand, doch die Wunde war verschwunden, als sei sie nie da gewesen.
34
Sie ließ keine Zeit verstreichen. Sie stand auf, ging zurück in die Halle und marschierte mutig auf Angor zu, der sich damit vergnügte Ramon unsagbare Qualen zuzufügen.
»Lass ihn in Ruhe!«, schrie sie ihn an. Sie wusste nicht, woher ihr Mut kam. Er floss ihr einfach wie aus einer unversiegbaren Quelle durch die Adern und er ließ auch nicht nach, als Angor sich mit einem wütenden Blick zu ihr umwandte, wie ein Blitz auf sie zu schnellte und sie von hinten packte. Er wurde lediglich ein wenig erschüttert.
In diesem Moment sprang die große Flügeltür auf. Der Morgen war bereits angebrochen und Tageslicht kam herein. Zusammen mit einem Windstoß, der ihnen den Duft von Wiesen, Bäumen und Wasser ins Gesicht blies. Angor schritt rückwärts in den Raum und zog Mia mit sich. Die Männer ließen Ramon los und entfernten sich ebenfalls von der Tür. Sie wirkten ängstlich und ihre Köpfe waren leicht geneigt. Jedoch standen Kell und Malina jetzt auf und näherten sich der Tür.
»Recedere«, hauchte Malina erfürchtig.
Er stand plötzlich einfach da. Wie aus dem Nichts. Niemand hatte ihn kommen sehen. Es war, als hatte er sich aus der Luft materialisiert. Mit nur einem Wimpernschlag. Seine schwarzen Augen funkelten mordlustig und sein ihr so vertrautes Gesicht war vor Zorn geradezu entstellt, doch ihr sprang vor Glück das Herz fast aus der Brust. Sie spürte sofort die Wärme und die Geborgenheit, die sein Gesicht schon immer in ihr ausgelöst hatten. Der Wind spielte in seinem pechschwarzen, halblangen Haar und trug seinen Duft an sie heran. Den frischen Duft von Nacht und Nebel. Und während er dastand, gingen Kell undMalina in die Knie und verneigten sich so tief vor ihm, dass ihre Köpfe den Boden berührten. »Lass sie los«, verlangte seine tiefe Stimme ruhig und beherrscht.
Angor blieb eine Weile stumm und betrachtete ihn von oben bis unten. »Recedere Nox«, sprach er ungläubig aus. »Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich hier auftauchen wirst. Wie ich sehe hat deine Kraft nicht mehr gereicht, um in deiner alten Gestalt zurückzukehren.« Er betrachtete ihn noch einmal herabwürdigend. »Stattdessen platzt du als ein jämmerlicher Vampir hier rein. Ich weiß nicht, ob
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