Emilia - Herzbeben
dass ihm Mia auf seiner Schule nicht besonders viel Freude bereiten würde. Schon bald würde er enttäuscht feststellen, dass seine Schule genauso wenig mit ihr klar kam, wie all die anderen. »Es ist nicht weit«, berichtete er während der Fahrt. »Aber hier ist eigentlich gar nichts weit«, lachte er dann. »Dazu ist die Stadt zu klein.«
Mia sah hinaus und betrachtete die Menschen und die Häuser. Es war ein idyllisches Städtchen. Ruhig und friedlich. Sie hatte bisher noch nie in einer kleinen Stadt wie dieser gewohnt. Ihre Eltern waren mit ihr immer in Metropolen gezogen, wo viel los war. Ruhe und Gemütlichkeit waren ungewohnt für sie. Während sie durch das Städtchen fuhren, vorbei an dem kleinen Marktplatz und den Geschäften, fiel Mia der dunkle Wald auf, der sich hinter der Stadt erhob. Die Bäume ragten wie schwarze Zinnsoldaten mit spitzen Helmen hinter den Häusern in den wolkenlosen Himmel. Zwischen ihnen lugten weiter entfernt einige Türme hervor. Miavermutete im Wald ein altes Schloss, das sie während der Fahrt versuchte deutlicher zu erkennen. Als Walt jedoch in eine Straße einbog und durch eine Allee fuhr, war von dem Wald leider nichts mehr zu sehen. Am Ende der Allee sah Mia schon das Schulgebäude. Es war weiß und wirkte wie ein altes Herrenhaus. Walt hielt direkt davor an. Mitten zwischen den Schülern, die entweder in Trauben vor dem Gebäude standen oder hinein strömten. Mias Herz polterte los.
»Ich wünsche dir einen tollen Tag, Mia!«, sagte Walt. Als Mia ihn dann erschrocken ansah, fügte er noch schnell hinzu: »Ich muss zum Nebengebäude. Wir sehen uns aber später. Du kennst das ja schon.«
Ja , dachte sie enttäuscht und sah hinaus. Das kannte sie schon. Und auch dieses Mal würde sie den Weg allein gehen müssen. Einige Schüler blickten schon neugierig in den Wagen, also stieg sie schnell aus, bevor noch mehr auf sie aufmerksam wurden. Sie schlug die Autotür leise zu, sah Walt davon fahren und stand wieder einmal mitten in der Hölle. Ihr Gesicht senkte sich sofort zu Boden, als sie die ersten Blicke bemerkte und das erste Tuscheln hörte. Ihr langer Pony fiel dabei über ihr rechtes Auge, wodurch es gut verdeckt wurde. Sie trug diesen Seitenscheitel schon seit ein paar Jahren und er leistete gute Dienste. Manchmal fiel den Schülern und Lehrern dadurch erst in der Mitte des Schuljahres die Eigenart ihrer Augen auf. Und meistens passierte es im Sportunterricht. Sie musste einfach aufpassen, dass sie ihren Kopf nicht zu sehr bewegte, ihn leicht schräg und gesenkt halten, dann sah niemand, dass ihre Augenfarbe nicht nur grün war, so wie bei ihrer Mutter. Sie holte tief und zitternd Luft, rückte ihren Rucksack zurecht und ging los. Die meisten Füße wichen ihr zum Glück aus, um andere musste sie herumgehen. Sie versuchte sich auf den Steinboden zu konzentrieren und das Tuscheln zu überhören, in dem mehrfach ihr Name vorkam. Aber es gelang ihr nicht so gut. Sie hörte ihn bestimmt hundert Mal. Als ihn dann jemand laut aussprach, versuchte sie auch das zu ignorieren und schneller zu gehen, doch es stellte sich ihr jemand in den Weg. Dunkelrote Stiefel, nackte Beine und ein kurzer Rock. Na prima , dachte sie. Jetzt ging es los.
Mia sah auf. Doch sie blickte ihr nicht ins Gesicht. Das tat sie nie. Oder eher selten. Sie starrte ihre weiße Bluse an. Sie war unter ihrem üppigen Busen zusammengeknotet und viel zu weit aufgeknöpft. Man konnte ihren roten BH sehen.
»Bist du Mia, oder nicht?«, fragte das Mädchen spitz.
Mia sagte nichts. Sie krallte sich an ihrem Rucksack fest und nickte nur.
Einen kurzen Moment war es still und Mia bemerkte, wie sich ein Kreis um sie herum bildete. Sie starrten sie alle an. Wem war sie da schon wieder begegnet? Dem Star der Schule? Einer Cliquenchefin?
»Ich hab dich mir anders vorgestellt«, sagte sie mit einem überheblichen Unterton in der Stimme. »Irgendwie … hübscher.«
Gekicher umgab sie. Natürlich.
»Du bist doch Walts Enkelin«, fuhr sie fort.
Mia stutzte. Wieso nannte sie ihren Schulleiter beim Vornamen?
»Du bist hoffentlich nicht hierher gewechselt, weil du diesen Vorteil ausnutzen willst?!«
Aha. Sie hatte Angst, dass ihr jemand den Rang ablief. Anscheinend war sie wirklich so etwas wie ein Star an dieser Schule. Sie kannte solche Mädchen. Sie wollten um jeden Preis bewundert werden und fühlten sich auf ihrem Podest, auf dem sie auf alle anderen herab blickten, pudelwohl. Sie konnten es nicht ertragen, wenn
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