Emilia - Herzbeben
für sie gewesen. Ihr Körper und ihr Geist waren erschöpft. Nach nur wenigen Minuten war sie wieder eingeschlafen.
Ramon lauschte ihrem Atem. Wenn sie schlief hatte sie keine Angst. Ihr Herzschlag ging ruhig und ihr Gemüt war friedlich. So war es Nachts immer. Er machte es sich auf dem dicken Ast des riesigen Baumes vor ihrem Haus bequem und seufzte, als er zum Mond hinauf blickte. Die Nacht hatte etwas Magisches an sich. Sie war friedlich. Zumindest dort, wo er sich die meiste Zeit aufhielt. Bei ihr. Immer bei ihr. Er hatte auch schon andere Nächte erlebt. Nächte voller Kampf, Leid und Schmerz. Doch bei ihr waren die Nächte immer schön. Er fühlte sich wohl bei ihr, selbst, wenn er nie mit ihr sprach und sie nichts von seiner Existenz wusste. Allein ihre Gegenwart ließ ihn ruhig werden. Vielleicht lag es an seinem Auftrag. Er lebte und atmete für ihren Schutz. Ihre Unversehrtheit war sein Frieden. Doch genauso war ihr Schmerz seine Hölle. Er hatte ebenso gelitten wie sie, als dieser Typ sie auf dem Schulhof schikaniert hatte. Er hätte ihn so gern in der Luft zerfetzt. So, wiesie es am Liebsten auch getan hätte. Aber es war ihm nicht gestattet einzugreifen. Sie durfte nicht erfahren, was um sie herum geschah. Sie sollte ein normales Leben leben. Ohne die Dunkelheit, die sie alle kannten. Doch sie würden diese Fassade, die sie ihr vorspielten, dieses scheinbar normale Leben, nicht mehr lange aufrecht erhalten können.
Er schob sich noch einen Streifen Kaugummi in den Mund, legte seinen Arm lässig auf seinem angewinkelten Knie ab und lauschte nebenbei dem Gespräch, das aus dem Keller des Hauses kam. Anna und ihr Vater stritten.
»Bist du wahnsinnig, ihr alte Fotos zu zeigen??« Sie war so aufgebracht, dass sie fast schrie. »Warum hast du sie nicht vernichtet?«
Walt seufzte. »Es sind nur Fotos aus deiner Jugend. Denkst du, ich zeige ihr Fotos aus dieser Zeit? Ich bin doch nicht lebensmüde. Außerdem finde ich, dass sie das Recht dazu hat, Aina«, sagte er.
»Hör auf, mich so zu nennen!!«, schrie sie und lief wütend im Keller auf und ab.
Walt biss sich auf die Lippe. »Entschuldige.«
»Deinetwegen fliegen wir noch auf! Keine Gedanken, Paps! Die Vergangenheit existiert nicht mehr! Wenn wir uns nicht daran halten, sind wir bald alle tot!«
Wieder seufzte er schwer. »Sie hat nie ein altes Foto von dir gesehen, Anna. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Wie ihre Augen gestrahlt haben. Sie möchte gern etwas über dich erfahren. Sie kennt ihre eigene Mutter nicht! Wir müssen ihr irgendetwas erzählen. Sie wird Fragen stellen!«
»Sie weiß genug«, sagte Anna kühl.
»Wirklich? Weiß sie, warum dieses Unwetter ihr kein Haar gekrümmt hat, während es dem Jungen fast das Leben gekostet hat?«
Anna erstarrte und blickte mit geballten Fäusten den Steinfußboden an.
»Du kannst mir nicht erzählen, dass sie sich darüber nicht zumindest wundert. Was erzählst du ihr dann? Wie erklärst du ihr, warum ihr mich nie besucht habt? Warum sie keine Großmutter hat? Und warum diese Stadt jedes Jahr gerade an ihrem Geburtstag im Ausnahmezustand ist?«
»Sei still!«, schrie sie verzweifelt und legte sich die Hände an den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen, die sie vor ihm verbarg, indem sie ihm den Rücken kehrte. »Ihre Großmutter ist tot! Und über den Ausnahmezustand wird sie nie die Wahrheit erfahren!«
»Sie ist nicht dumm, Anna!«, schrie Walt jetzt ohne Rücksicht auf ihre Tränen zurück. »Es gibt überall Computer, in denen sie nachsehen kann! Und die Menschen in dieser Stadt wissen noch ganz genau, was damals passiert ist! Sie braucht nur jemanden zu fragen. Denkst du nicht, dass sie dann hellhörig wird? Ihr Geburtstag ist in zwei Wochen. Du musst ihr die Wahrheit sagen, bevor sie von allein herausfindet, wer sie ist!«
Anna starrte immer noch den Boden an und verlor sich in ihrem Schmerz. Immer wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht. Als sie begann zu schluchzen, kam Walt zu ihr und berührte sie sanft an den Schultern.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie euch heute schon auf den Fersen waren?«, fragte er sie vorsichtig.
Anna seufzte. »René hat gesagt, dass ihre Kraft erwacht. Deshalb waren sie heute dort. Sie … haben sie gespürt. Wie damals, als sie geboren wurde.« Sie holte tief und zitternd Luft und fuhr dann fort: »Er sagte, er hat einen Plan, wie er sie besser beschützen kann. Deswegen ist er nicht mit uns gekommen.«
»Was für ein Plan?«, fragte
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