Emilia - Herzbeben
Sie war in einer falschen Welt. Das konnte nicht echt sein. Entweder waren sie alle begnadete Schauspieler oder sie träumte und wachte einfach nicht auf.
»Ich auch nicht«, sagte Emma, ein dunkelhäutiges Mädchen mit einer zarten Stimme und für ihr Alter schon recht weiblichen Kurven. Sie stierte Mia fasziniert in die Augen. »Und das grüne Auge ist von deiner Mutter?«
Mia nickte verlegen.
»Ich muss deine Mutter unbedingt mal sehen. Ich hab noch nie so ein helles Grün gesehen!«
»Ich hab noch nie so ein tiefes Schwarz gesehen!«, setzte Jan entgegen. »Wenn das schwarze Auge von deinem Vater ist, muss ich ihn mal sehen«, lachte er und kam näher, um sich ihr dunkles Auge genauer anzusehen.
Mia senkte jedoch peinlich berührt den Kopf, woraufhin ihmjemand gegen die Schulter boxte. »Stier sie nicht so an!«, sagte ein anderer Junge, stützte sich auf dem Tisch ab und reichte Mia die Hand. Sie sah nicht auf, sondern schüttelte sie nur. Doch der Junge grüßte sie auf eine Weise, die sie schließlich doch aufblicken ließ.
»Ich bin Jona. Freut mich, Emilia.«
Niemand, niemand nannte sie je bei ihrem richtigen Namen! Und niemand kannte ihren richtigen Namen. Immer und überall wurde sie nur Mia genannt. Mia. Nur Mia. Selbst ihre Eltern nannten sie ausschließlich Mia. Sie sprachen ihren Namen nur dann voll aus, wenn sie wütend waren. Dann klang er wie ein Gewitter. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass jemand Fremdes ihren Namen ausgesprochen hatte und es dabei auch noch so sanft und lieb klang. Als sie ihren Kopf hob und sich ihre Blicke trafen, durchzog sie plötzlich ein heißer Blitz. Sie erstarrte. Und er erstarrte ebenfalls. Sie konnte nicht sagen, ob er hübsch war oder nicht oder welche Haarfarbe er hatte, denn sie sah nur seine Augen. Warme, liebevolle, ehrliche Augen, die ihr mitten ins Herz blickten und es schneller schlagen ließen. Sie sahen sich lange an. Und ihre Blicke waren überrascht und innig zugleich. Als Mia jedoch die Realität zurück ins Gehirn sickerte, die Blicke, die auf ihr lagen und die Tatsache, dass sie nicht gerade ein Mädchen war, das Interesse bei Jungs weckte, senkte sie den Kopf und holte tief Luft. Sie versuchte sich klarzumachen, dass das alles nicht echt war. Dass sie nur wegen Walt Interesse an ihr zeigten. Auch dieser Junge war nur interessiert an ihr, weil sie die Enkelin des Schulleiters war. Sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen, etwas Anderes zu glauben. Es würde sie zerreißen. Sie atmete noch einmal tief ein und versuchte nun all ihren Blicken auszuweichen. Sie konnte mit dieser Situation nicht umgehen. Sie konnte Menschen nicht einschätzen, wenn sie nett waren. Das kannte sie nicht. Und dass sie nun darüber diskutierten, wer sie nach der Schule nach Hause begleitete, machte alles noch viel schlimmer. Nadja hatte sich zuerst angeboten. Doch auch Emma wollte Mia nach Hause bringen. Sie wollte unter Anderem ihre Mutter kennenlernen. Jan bot sich ebenfalls an. Und Patrick, ein Junge, der die meiste Zeit still dagesessen und die Gespräche stumm verfolgt hatte, hob die Hand und kündigte an, dass er auch mitkommenwürde. Jona sagte, dass er sie nach Hause bringen würde, wenn sie sich nicht entscheiden konnten, woraufhin Mias Herz höher schlug. Und dann kam Lara noch in den Raum getänzelt und wollte ebenfalls mitkommen. Letzten Endes einigten sie sich darauf, dass sie sie alle nach Hause begleiteten.
Auch die Lehrer waren den ganzen Tag natürlich ungewöhnlich nett zu ihr. Vermutlich waren sie von Walt geimpft worden. Die restlichen Schüler in diesem Bereich starrten sie zwar an, aber wirkten nicht erschrocken oder ablehnend, sondern einfach nur interessiert und überrascht. Als sie den Bereich jedoch verließ, schlug ihr wieder Ablehnung entgegen. Aber es griff sie niemand an, denn sie war ja nicht allein. Sie versuchte das Gefühl zwar zu unterdrücken, doch sie fühlte sich an diesem Tag so gut wie noch nie in ihrem Leben. Und auch, wenn ihre neuen Freunde ihr Interesse nur spielten, genoss sie die Zeit mit ihnen. Sie waren so fröhlich und unbeschwert. Und sie gaben ihr einen Einblick in ein Leben, das sie nicht kannte. Ein normales Leben, als ein ganz normales Mädchen. Ein Leben, das sie niemals führen würde. Es fühlte sich gut an, mit dieser Gruppe nach Hause zu gehen und ihren unbekümmerten Gesprächen zu lauschen. Es gab ihr das Gefühl zu ihnen zu gehören, auch wenn sie wusste, dass dies nie passieren würde.
Auf dem
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