Emilia - Herzbeben
tatsächlich zwar eine übertriebene, aber ehrliche Freude, die sie zeigte und sie interessierte sich ebenso übertrieben und ehrlich für jedes Wort, das aus Mias Mund kam. Sie wusste jedoch immer noch nicht wieso. Was sah sie in Mia, das diesen Überschwang auslöste? Nachdem sie sich hingesetzt hatten, fragte Mia sie, was Walt ihnen über sie erzählt hatte und erntete zunächst zögerliche, unsichere Blicke.
»Nicht viel«, antwortete Nadja schließlich und sah dabeinachdenklich aus dem Fenster. »Eigentlich nur, dass du schon oft umgezogen bist, dass du hier geboren wurdest und nach 16 Jahren endlich wieder in deine Geburtsstadt zurückgekehrt bist. Darüber hat er sich sehr gefreut.«
Mia sah sie skeptisch an. Sie log. Das sah sie ihrem Gesicht an und ihrem nervösen Blick, der immer wieder nach draußen wanderte. Das konnte nicht alles sein, was er ihnen erzählt hatte. Warum logen sie sie an?
»Und das du Bücher liebst!«, warf Lara noch ein und sah Mia mit ihren leuchtenden, blauen Augen an. »Geschichten. So, wie ich.«
Ja , dachte Mia. Geschichten waren immer ihre Flucht aus der Realität gewesen. Sie tauchte in sie hinein, wenn das Leben zu schmerzhaft wurde, las manchmal bis spät in die Nacht oder schrieb sie in ihre unzähligen Notizbücher, wenn der Unterricht zu langweilig war. Sie kannte den Stoff sowieso schon, bevor er durchgenommen wurde. Aber auch das konnte nicht alles sein. Sie sahen plötzlich bedrückt aus und wichen Mias Blicken aus, was sie nicht nur verwirrte, sondern wütend machte. Warum wurde sie im Moment von allen Seiten angelogen?
An der nächsten Station stieg Jan in den Bus ein und kam direkt zu ihnen. »Hey, Leute! Alles klar?«
Nadja und Lara nickten nur, woraufhin Jan sie auf ihre zerknirschten Gesichter ansprach.
»Ich seh nicht zerknirscht aus!«, protestierte Lara.
»Nein, alles in Ordnung. Wir haben Mia nur gerade berichtet, was Walt uns alles über sie erzählt hat.«
»Oh«, machte Jan. »Ja, er hat uns ne Menge über dich erzählt.«
Ach, auf einmal war es ne Menge. Mia wurde immer wütender. Was verheimlichten sie ihr? Jan und Nadja tauschten einen langen, bedeutsamen Blick, was Mia natürlich aus dem Augenwinkel erkannte und sie noch rasender machte. Sie holte tief Luft. Ihr wurde schon wieder heiß vor Zorn. Sie starrte auf den Boden, um sie nicht zu erschrecken und atmete langsam ein und aus. So, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Ganz ruhig , sagte sie in Gedanken zu sich. Alles akzeptieren. Alles annehmen. Doch die Worte ihres Vaters funktionierten nicht mehr. Ihr Atem wurde immerhastiger. Sie verlor die Kontrolle. Schon wieder. Verkrampft griff sie in den Sitz und wehrte sich gegen die aufflammende Wut, doch je mehr sie sich wehrte, umso schlimmer wurde sie. Plötzlich wurde sie jedoch abgelenkt.
Nadja sprang von ihrem Sitz auf und blickte wie erstarrt nach draußen. Auch Jan und Lara sahen hinaus. Als Mia ihren Blicken folgte, stellte sie erschrocken fest, dass auf einmal wie aus dem Nichts ein dichter Nebel aufgezogen war und die Straßen bedeckte. Und als Mia in den Himmel sah, zogen sich dunkle Wolken über ihnen zusammen, in denen es blitzte. Es wurde windig. Schon wieder zog ein Unwetter auf! Langsam hatte sie das Gefühl, dass es sie verfolgte.
Auf einmal schnappte sich Nadja Mias Hand und zog sie in den Gang. »Jan, anhalten!«, rief sie Jan zu und ihre Stimme war so laut, dass sich alle zu ihr umdrehten. Mia spürte die helle Panik von ihr ausgehen.
Jan hielt sich sofort an einer Stange fest, fokussierte den Busfahrer und rief durch den ganzen Bus: »Festhalten!«
In diesem Moment schien der Busfahrer so kräftig auf die Bremse zu treten, dass der Bus mit mehreren kurzen Rucken anhielt. Alle flogen nach vorn. Viele Schüler fielen auf den Boden. Im selben Moment öffneten sich die Türen. Jan nahm Lara an die Hand und folgte Nadja und Mia zur Tür. Bevor sie jedoch ausstiegen, wandten sie sich noch einmal um und sahen aus dem Fenster, denn ein ohrenbetäubendes, langgezogenes Hupen erklang zwischen den lauten und panischen Rufen der Schüler. In diesem Moment fuhr ein LKW direkt in die Seite des Busses. Sie hatten nicht einmal Gelegenheit zu schreien. Es ging alles zu schnell. Der Aufprall und das Zersplittern von Glas waren so laut, dass es schmerzte und als ihnen die Splitter der Fensterscheiben entgegen schossen und der Bus umkippte, befürchtete Mia schon, dass das ihr Ende war. Sie fiel zusammen mit Nadja aus der Tür heraus, doch
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