Emilia - Herzbeben
Großmutter.
»Wir sollten Walt anrufen«, sagte Jona auf einmal. »Er muss uns die Wahrheit sagen!« Er sah Mia an und zog nachdenklich die Stirn kraus. »Er muss uns erklären, was das alles bedeutet. Warum sie Mia jagen und wieso sie Halt machen, wenn sie hören, dass sie ihm gehört.«
»Walt hat uns belogen!«, sagte Jan jetzt. »Er hat uns weder gesagt, dass Mia spezielle Kräfte hat noch, dass er offiziell auf dem Friedhof begraben liegt, oder dass dieser Typ da draußen«, er zeigte auf das Fenster, »auf sie aufpasst.« Plötzlich stockte er, als er aus dem Fenster sah. Alle anderen folgten seinem Blick und stellten erschrocken fest, dass der Mann weg war.
Mia stand auf und sah auch hinaus. Es regnete jetzt noch stärker und mittlerweile blitzte und donnerte es. Doch der Mann war weg. Es war plötzlich so still in dem Raum, dass das Herzpoltern und Blutrauschen hier drin fast ohrenbetäubend war. Doch es war nicht das Einzige, das Mia hörte. Jemand ging über die Wiese vor dem Haus. Sie hörte das Gras rascheln und kurz darauf erklangen Schritte auf dem Kieselsteinweg und dann auf der Veranda. Miaund Nadja starrten die Haustür an, während die anderen noch erschrocken aus den Fenstern blickten. Und dann schwang die Tür einfach auf. Leise und unbemerkt. Die meisten bekamen es erst mit, als sie das laute Rauschen des Regens herein dringen hörten. Doch da marschierte der Mann schon mitten zwischen ihnen in das Wohnzimmer.
Das Wasser tropfte ihm von der Kleidung und es lief ihm aus dem dunklen Haar über sein angespanntes Gesicht. Sein Blick fixierte ausschließlich Mia. Langsam und lautlos ging er durch den Raum, an den Möbeln vorbei und steuerte direkt auf sie zu, ohne sie aus den Augen zu lassen oder gar zu zwinkern. Er war groß. Sehr groß. Unter seiner schwarzen Lederjacke sah man Muskelberge durch sein T-Shirt drücken und seine Ärmel spannten sich eng über seine Oberarme. Sein Gang wirkte geschmeidig und flüssig und er war dabei so leise, dass man keinen Laut von ihm hörte. Keine Schritte, kein Rascheln seiner Jacke, nicht einmal seinen Atem hörte man. Mia war, als sei plötzlich alles zum Stillstand gekommen. Das Schlagen der vielen Herzen in diesem Raum, das Rauschen ihres Blutes, der Ventilator an der Decke, nichts nahm sie mehr wahr. Alles, was sie hörte, war Stille und alles, was sie sah, war sein Gesicht. Diese Augen, die ihr so vertraut waren, die Gesichtszüge, die sie irgendwoher kannte und dieses dunkle, wellige Haar, das ihr etwas in Erinnerung zurückrufen wollte, das sich anfühlte wie ein längst vergessener Traum. In ihr kehrte erneut Frieden ein. Die Aufregung legte sich, ihr Herzschlag wurde ruhiger und sie spürte eine unendliche Geborgenheit, die sie von innen heraus wärmte. Doch trotz der Ruhe bebte ihr Herz. Ruhig und friedlich, jedoch anders als sonst. In einem anderen Rhythmus, der sich viel zu gut anfühlte. Sie war glücklich. In diesem kleinen Moment der Stille war sie vollkommen glücklich, denn je näher er ihr kam, desto weiter dehnte sich ihr Frieden aus. Alles um sie herum verschwamm in einer milchigen Suppe aus Nichts. Es existierte nur noch sein Gesicht in diesem Raum. Irgendjemand rief ihr etwas zu. Sie vermutete, dass es Jona war und es klang wie »Sieh ihm nicht in die Augen!« Doch es war so weit weg. So unendlich weit. Es strengte sie an, der Stimme zuzuhören. Dann erklang sie erneut.Aber sie konnte ihre Augen nicht von ihm lösen. Ihr Blick haftete an ihm, wie ein Stück Metall an einem Magneten. Er hatte so schöne Augen. Und je näher er kam, umso deutlicher konnte sie die warme grün-braune Farbe erkennen. Es war ein faszinierendes Farbenspiel.
Auf einmal versperrte ihr etwas die Sicht. Etwas Weißes. Mia sah auf und erkannte Jonas Hemd und sein dunkelblondes Haar. Doch im nächsten Moment wurde er ihr wieder aus dem Blickfeld gerissen. Sie sah, wie er gegen die Wand schlug und aufstöhnte. Auf einmal nahm jemand ihre Hand und zog sie auf die Couch. Sie fiel in die weichen Kissen, zwinkerte ein paar Mal und sah dann Nadja vor sich knien, die ihr drei Finger vor die Nase hielt.
»Mia?«, sagte sie ängstlich. »Alles klar? Wie viele Finger siehst du?«
Mia zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Der Nebel lichtete sich und sie sah wieder den Raum und die Jugendlichen, die panisch zur Wand liefen. Es war unruhig.
»Mia, wie viele Finger?«
»Drei«, murmelte Mia, sah aber dabei zur Wand. Irgendetwas ging da vor sich, doch sie konnte nichts
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