Emilia - Herzbeben
erkennen. Sie standen alle im Weg. Jemand schrie »Lass ihn los!«, doch im nächsten Moment flogen sie alle, als seien sie von einer Druckwelle getroffen worden, rückwärts in den Raum. Mia konnte ihn jetzt endlich wieder sehen. Doch sie erschrak über den Anblick, der sich ihr jetzt bot. Seine Hand war um Jonas Hals gelegt und presste ihn weit über dem Boden gegen die Wand. Sie hörte ein tiefes, kehliges Knurren von ihm ausgehen. Es klang unheimlich und gefährlich. Wie das gurgelnde Knurren eines Monsters. Jona versuchte seinen Griff zu lösen und biss dabei wütend die Zähne zusammen.
»Wage es nie«, knurrte er Jona warnend ins Gesicht, »dich mir in den Weg zu stellen!«
Jona schnappte nach Luft und die anderen rappelten sich wieder auf. Einer der Jugendlichen schien seine Kräfte einsetzen zu wollen, um Jona zu befreien. Er ließ mit einer Handbewegung eine schwere Glasvase in die Luft schweben. Doch bevor er sie gegen seinen Kopf schleudern konnte, rief Mia so laut sie konnte: »Stopp!«
Alle erstarrten. Auch der vor Regen triefende, knurrende Mann war plötzlich still und starr.
»Lass ihn los!«, sagte sie zu ihm. Und er zögerte nicht eine Sekunde. Er ließ Jona sofort auf die Füße fallen, woraufhin er erst einmal zum Tisch taumelte, sich abstützte und nach Luft schnappte. Sie blickten Mia alle überrascht an. Einige liefen zu Jona hinüber, um nach ihm zu sehen. Der Mann stand noch einen Moment an der Wand, holte tief Luft, drehte sich wieder zu Mia um und kam mit gesenktem Kopf erneut auf sie zu. Als er vor ihr stand, kniete er sich hin und sah sie tief und innig an. »Es tut mir leid«, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich ganz sanft klang, »dass wir uns auf diese Weise begegnen, Mia. Ich hatte mir das anders vorgestellt.« Er holte tief Luft, seufzte und reichte Mia die Hand. »Mia«, sagte er gefühlvoll, »mein Name ist Ramon.«
Sie standen alle um sie herum und beobachteten sie gebannt. Mia spürte ihre Blicke, doch die Realität um sie herum verschwamm erneut, während sie ihm in die Augen sah. Sie gab ihm die Hand und ließ sie sich sanft schütteln.
»Ich weiß, dass du viele Fragen hast«, fuhr er fort, »aber wir haben nicht viel Zeit.«
Mia wartete neugierig. Und ebenso warteten all die anderen. Sie schienen alle den Atem anzuhalten, so ruhig war es auf einmal. Selbst Jona hatte aufgehört zu husten und blickte den Fremden gebannt an.
»Ich war schon an deiner Seite, bevor du geboren wurdest, Mia. Dein Vater hat mir aufgetragen dich zu beschützen. Dich und deine Mutter.«
Sie sah ihn erschrocken an. Ihr Vater? Bevor sie geboren wurde? Was redete er da?
»Wir waren es, die die Identitäten deiner Familie geändert haben. Das mussten wir tun, um euch zu schützen. Wenn sie wüssten, dass sie noch am Leben sind, würden sie nicht nur auf dich Jagd machen, sondern auf deine gesamte Familie.«
Mia entgleisten die Gesichtszüge und sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Blut aus dem Kopf weichen. Das Entsetzen saß ihr in den Knochen. Er hatte die Identität ihrer Familie geändert? Und ihr Vater steckte mit ihm unter einer Decke?
»Es ist eine lange Geschichte«, sagte er schnell. »Im Moment kann ich dir nur zwei Dinge sagen. Erstens: Ich bin einer von ihnen.«
Mia erschrak, als sich seine wunderschönen Augen plötzlich schwarz färbten. Pechschwarz! Die anderen erschraken ebenfalls.
»Und ich bin den meisten von ihnen überlegen«, fuhr er einfach fort, »was es mir all die Jahre möglich gemacht hat, sie von dir fernzuhalten. Und zweitens: Sie machen nur aus einem Grund Jagd auf dich.«
Jetzt wurden alle wieder still. Mucksmäuschenstill.
»Du«, sagte er und schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen, »hast etwas in dir, das ihnen Angst macht. Etwas, das ihm Angst macht. Du bist größer und mächtiger, als du dir vorstellen kannst, Mia und sie spüren das. Sie wissen nicht, dass du existierst, aber sie spüren deine Macht und wollen sie vernichten.«
Sie standen alle mit offenen Mündern an der Couch und sahen abwechselnd fassungslos von Ramon zu Mia und wieder zurück. Keiner von ihnen konnte glauben, was er da hörte. Auch Mia stand der Mund offen.
»Deine Familie hat es dir dein ganzes Leben lang verheimlicht, weil sie nicht wollten, dass du in Angst lebst. Du solltest ein normales Leben führen. Aber jetzt können wir es nicht mehr aufhalten. Deine Macht wächst und sie spüren sie immer deutlicher. Sie werden kommen. Schon bald. Und wir
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