Emilia - Herzbeben
viel sie wusste, litt ihr Großvater nicht unter einer Angststörung und er hatte ebenso panisch reagiert. Und ihr Vater … Ihr Vater fürchtete sich vor gar nichts. Sie konnte sich seine panische Stimme am Telefon immer noch nicht erklären. Und sie machte ihr Angst. Mia grübelte bis tief in die Nacht, doch sie kam auf keine plausible Erklärung. Sie wusste nur eins. Sie war mit Sicherheit nicht der einzige Grund fürdiesen Umzug gewesen. Normalerweise warteten sie immer, bis das Schuljahr zu Ende war. Das hatten sie ausnahmslos immer so gehandhabt, egal welchen Grund es mal wieder für einen Umzug gab. Aber dieses Mal hatte sie etwas regelrecht davon gejagt. Und es hatte etwas mit diesem Unwetter zu tun. Was es war, konnte sie sich nicht erklären. Aber sie würde es herausfinden. Irgendwie.
Mit diesen Gedanken schlief sie schließlich ein und träumte erneut von dem Jungen, der von der Windhose erfasst und von dem Hagel halb erschlagen worden war. Sie spürte wieder das Feuer unter ihrer Haut und sah den Regen auf den Jungen niederprasseln, doch dieses Mal fühlte sie eine seltsame Verbundenheit mit dem Regen. Es war, als gehöre er zu ihrem Körper. Sie fühlte jeden Regentropfen, wie er auf seinem Leib zerplatzte. Auch der Sturm und der Nebel und selbst die Hagelkörner fühlten sich plötzlich wie Körperteile von ihr an. Als habe sie allein die Macht darüber und könne sie bewegen, wie immer sie wollte. Als der Junge in die Luft gehoben wurde, spürte sie sein Gewicht, als sei sie es, die ihn anhob. Sie selbst blieb von alldem verschont, denn sie war das Unwetter. Sie war diejenige, die den Jungen quälte, ihm die Luft zum Atmen nahm und mit Hagelkörnern nach ihm schlug.
Irgendwann erwachte sie mitten in der Nacht schweißgebadet. Die rot leuchtenden Zahlen auf ihrem Wecker zeigten ihr, dass es drei Uhr war. Sie richtete sich schwer atmend auf und legte ihr feuchtes Gesicht erneut in ihre Hände. Dabei versuchte sie tief und ruhig zu atmen. Als sich ihr Herzschlag dann langsam beruhigte, wischte sie sich ihr Gesicht trocken und sah seufzend aus dem Fenster. Es trommelten leise Regentropfen gegen die Scheibe. Ihr Klang in der dunklen Stille war beruhigend. Als sie sie jedoch genauer beobachtete, wie sie das Glas entlang liefen, wurde sie stutzig. Sie liefen nicht nach unten, sondern zur Seite. Mia zwinkerte ein paar Mal und lehnte sich vor, um sie genauer erkennen zu können. Doch, tatsächlich, sie liefen zur Seite. In ihre Richtung. Mia schob sich langsam aus dem Bett und ging schleichend auf das Fenster zu. Und je näher sie ihm kam, umso mehr veränderte sich die Richtung, in die die Regentropfen flossen. Als sie direkt davor stand, flossen sie schließlich ganznormal nach unten. Vielleicht war es windig, dachte sie sich, und die Regentropfen waren vom Wind zur Seite gedrückt worden. Doch, als sie die Bäume betrachtete, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Es wehte nicht einmal ein Lüftchen. Mia berührte mit einem Finger die Fensterscheibe und dachte erneut an ihren Traum und den Regen, der sich angefühlt hatte, als sei er ein Teil von ihr. Und in diesem Moment stellte sie erschrocken fest, dass die Regentropfen nun nicht mehr nach unten flossen, sondern direkt auf ihren Finger zu. Aus allen Richtungen! Zur gleichen Zeit bemerkte sie, wie sich der Hauch von Nebel, der auf der Wiese und dem Weg vor dem Haus lag, bewegte und auf das Haus zu schwebte. Mia schnappte nach Luft und wich erschrocken von dem Fenster zurück. Sie kniff kurz die Augen fest zu und biss sich auf die Lippe, um zu testen, ob sie wach war. Als sie dann erneut das Fenster betrachtete, war alles wieder normal. Der Regen floss nach unten, so wie es sich gehörte, und der Nebel war verschwunden. Vollständig. So, als wäre er nie da gewesen.
3
Er liebte die Nachtluft in dieser Stadt. Er hatte sie schon immer geliebt. Sie war geschwängert von Tannenduft, vermodertem Holz und Moos. Oh wie sehr er diesen Duft vermisst hatte. Er erinnerte ihn an früher. An sein früheres Leben in dieser Stadt und die abenteuerlichen Zeiten. An seine Familie. Seine alte und seine neue. Er warf einen Blick auf das Fenster hinter dem sie stand und erschrocken hinaus blickte. Sie war aufgewühlt und ihr Herz raste. Doch einen Augenblick später redete sie sich ein, dass sie vermutlich vor Müdigkeit halluzinierte und schlich wieder ins Bett. Sie war wirklich sehr müde. Das konnte er fühlen. Es war ein langer, ereignisreicher und erschreckender Tag
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