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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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sie sich schlicht aus Anstand ihnen gegenüber verpflichtet. Es war doppelt frustrierend, diese unerwünschten Staubfänger zu behalten, während sie sich von anderem trennte, das ihr wirklich etwas bedeutete.
    Am schwierigsten war es mit Henrys übriggebliebenen Sachen, die sie schon vor Jahren hätte wegwerfen sollen, wie die zueinanderpassenden Gepäckstücke, die sie für ihre Englandreise gekauft hatten - vier American Tourister-Hartschalenkoffer im dunklen Lilaton roher Leber, alle mit goldenem Monogramm und Kombinationsschloss. Sie waren groß und schmal, stammten noch aus der Zeit vor der Einführung von Rollen und kippten schon bei leichter Berührung um. Emily konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie die Koffer zum letzten Mal benutzt hatten, vermutlich bei einem Weihnachtsbesuch in Boston, als die Enkelkinder noch klein waren. Ihr war noch dunkel im Gedächtnis, wie sie in einen davon Geschenke packte. Jedenfalls war es mindestens zehn Jahre her. Seit Henrys Tod hatte sie ihre nicht mehr benutzt, als könnte es Pech bringen, die Koffer auseinanderzureißen.
    Sie kippte einen der Koffer nach hinten, damit genug Licht darauf fiel, um die Initialen lesen zu können - er hatte Henry gehört -, und sah Henry in seinem Trenchcoat und ohne Hut auf einem Bahnsteig in den Midlands stehen, das dünne Haar vom Wind zerzaust. Statt sich mit einem Auto herumzuärgern, waren sie mit dem Zug gefahren, hatten die Fahrpläne wie Astrologen studiert und sich von London durchs Lake Country und die menschenleeren Moore bis nach Edinburgh hinaufgearbeitet. Die Speisewagen und der weite Blick galten als romantisch, doch jedes Mal, wenn sie einstiegen, musste Henry mit den beiden größeren Koffern die tückischen Metallstufen und die vollen Gänge bewältigen, während ihm Emily mit den beiden kleineren mühsam folgte. Wenn sie ihr enges Abteil erreichten (in den Filmen hatte alles viel geräumiger ausgesehen), musste er jeden einzelnen Koffer ins Gepäcknetz hieven, woraufhin er stets murrte, dass er auf dieser Reise wahrhaft genug Bewegung bekomme, und sie sich darüber stritten, wie viel Kleidung sie wirklich brauchten und warum sie beschlossen hatten, ausgerechnet im Herbst herzukommen. In der zweiten Woche war ihnen das ganze Ritual so unangenehm geworden, dass keiner von beiden sich mehr dazu äußerte, sondern sie die Koffer bloß noch hinein- und hinausschleppten, als sei es ihre Strafe. Und wenn sie im nächsten Gasthof alles ausgepackt hatten und sich in dem idyllischen Städtchen langsam zurechtfanden, bekamen sie wieder bessere Laune. Sie waren ja nicht den ganzen Weg hergekommen, um sich zu streiten. Henry war wieder entgegenkommend, und ihr tat das Ganze leid. Ein gutes blutiges Lammkotelett und eine Flasche Rotwein, eine sündhafte Nachspeise mit Sahne und danach ein Tawny-Portwein und vielleicht noch ein Drambuie auf Bonnie Prince Charlie als Schlaftrunk wirkten auf ihre Stimmung Wunder, und dann schlenderten sie Arm in Arm durch die alten Straßen zu ihrem gemütlichen Zimmer zurück und sanken ins Bett, alle Reisestrapazen vergessen, alle Freuden zum Greifen nah.
    Mit einem alten Geschirrhandtuch wischte sie jetzt die Spinnweben am Griff ab und hob den Koffer hoch, um zu sehen, wie schwer er war - überraschend leicht. Dasselbe Experiment hatte sie bereits letztes und vorletztes Jahr durchgeführt, und die Lebhaftigkeit ihrer Erinnerung schwächte ihre Entschlossenheit, obwohl es eigentlich keinen zwingenden Grund gab, die Koffer zu behalten. Ihre Zeit als Weltreisende war vorbei. Das war in Ordnung. Sie war keine dieser Elderhostel-Reisenden, die mit Sonnenschild und Wasserflasche im Heiligen Land herumlatschten. Wenn bloß kein Monogramm auf den Koffern wäre. Sie wünschte, die Initialen ließen sich entfernen. Sie war versucht, sie mit Isolierband, einer Art Blende, zu überkleben, als würde es ihr leichter fallen, sie anonym wegzugeben.
    Diese Überlegungen ließen sie innehalten, und sie richtete sich auf, holte tief Luft und dachte noch einmal über die Koffer nach, alle vier in der Feuchtigkeit zuammengedrängt wie eine Familie. Sie waren über vierzig Jahre alt, Emily würde sie nie wieder benutzen, und die Kinder hatten ihr eigenes Gepäck. Warum fühlte sie sich dann wie ein Scharfrichter?
    «Tut mir leid», sagte sie und wischte die Seiten ab. «Vielleicht machen eure neuen Besitzer eine schöne Reise mit euch.»
    Der Entschluss zehrte an ihren Kräften, als wäre sie anderthalb Kilometer

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