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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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das müsse schon dreißig Jahre her sein. Ein netter Junge, hochgewachsen, stets höflich. Sie fand es zum Weinen, doch Emily spürte auch so etwas wie Stolz oder Aufregung angesichts ihrer persönlichen Verbindung zu diesem Vorfall.
    «So was könnte jedem passieren», sagte Arlene. «Denk nur an den Studenten von der Duquesne University, der letzte Woche am helllichten Tag in der Forbes Avenue niedergestochen wurde. Es beschränkt sich nicht mehr bloß auf die schlimmen Viertel. Highland Park ist das beste Beispiel. Hinter der Negley Avenue gibt’s ein paar Straßenzüge, wo es wie im Wilden Westen zugeht. Nachts kann man die Schüsse hören.»
    Maßlos übertrieben war das nicht. Emily hatte in den Nachrichten gesehen, wie sich nach einer Schießerei die Nachbarn beklagten, wie Mütter auf dem Gehsteig ihre Babys umklammerten, und ein-, zweimal hatte sie ein einzelner ferner Knall aufgeschreckt, und das jähe Pock! war wie ein Ballon über die Dächer getragen worden, doch dann fiel ihr ein, dass es letztes Mal tagsüber gewesen war und jemand vielleicht bloß den Startschuss für einen Stadtlauf im Park abgegeben hatte.
    «Bist du in letzter Zeit mal durch Friendship gefahren?», fragte Arlene. «Auf der Penn Avenue am Friedhof entlang? Ich hab gedacht, die Gegend sollte saniert werden, aber da ist inzwischen alles dicht.»
    «Ich weiß, es ist eine Geisterstadt.» Emily fragte sich, ob Arlene an Henrys Grab gewesen war, und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie musste wirklich vorbeifahren. Sie musste auch das Grab ihrer Eltern und das von Louise besuchen, aber wann würde sie dazu Zeit finden?
    «Du hast doch von dem Überfall direkt hier in Edgewood gehört.»
    «Ich dachte, das war in Wilkinsburg.»
    «Das war direkt hier.» Arlene deutete mit dem Daumen auf den Parkplatz. «In einem der Reihenhäuser an der Pennwood Avenue, oben bei der Hampton Avenue, nicht mal vier Straßen von hier entfernt. Zwei Männer haben sich gewaltsam Zutritt verschafft und diesen anderen Mann an die Wand gedrückt und erschossen.»
    «Schrecklich», sagte Emily und blickte verstohlen zum Buffet hinüber. Dort wartete keine Schlange.
    «Anscheinend hat er diesen Typen Geld geschuldet und konnte es nicht zurückzahlen.»
    «Es geht immer um Drogen, stimmt’s?»
    «Also haben sie ihn umgebracht. Einfach so.»
    «Da gerät man ins Grübeln», sagte Emily. «Ich weiß.»
    «Also, ich brauche jetzt etwas zu essen. Und du?»
    Später waren sie sich einig, dass der Chefkoch wohl frei gehabt hatte. Das Haschee war für Emilys Geschmack versalzen, die Pfannkuchen zu trocken. Nächstes Mal würde sie die Waffeln probieren.
    Als sie über den Parkplatz zu ihrem Subaru gingen, fiel Emilys Blick auf eine Gruppe von verwahrlosten Schwarzen - keine Jugendlichen mehr -, die am Eingang des Giant Eagle standen. Das waren keine Bettler, sie brachten einem nicht für einen Dollar die Tüten zum Auto, und doch waren sie jeden Tag da, bei jedem Wetter, telefonierten mit ihren Handys und rauchten, ohne dass sich die Polizei um sie zu kümmern schien.
    Als sie Arlene abgesetzt hatte und an der Ampel in der Braddock Avenue auf Grün wartete, verriegelte sie die Türen. Das tat sie immer, egal, wo sie war, doch es ließ sich nicht leugnen, dass sie auf der Fahrt durch East Liberty besonders wachsam war.
    Zu Hause kam Rufus nicht nach unten, um sie zu begrüßen. Sie fand ihn in ihrem Schlafzimmer. Er hob kaum den Kopf und sah sie mit trübem Blick an, die Augen blutunterlaufen, als sei er aus den Tiefen des Schlafs aufgetaucht.
    «Was, wenn ich ein Einbrecher wäre? Würdest du mich einfach hereinspazieren und alles mitnehmen lassen, was ich haben will?»
    Er ließ den Kopf sinken und ächzte.
    «Lass dich nicht bei deinem Schönheitsschlaf stören.»
    Sie konnte Arlene ihre Hysterie nicht verdenken. Wer war schon so wehrlos wie eine alte, allein lebende Frau? Die Stadt war schon immer gefährlich. Die ganze Welt. Die Schuld lag zumindest teilweise bei der Post-Gazette, fand Emily, da sie zu oft von diesen Horrorgeschichten berichtete. Doch es ärgerte sie, wie leicht sie sich hatte anstecken lassen, wie schnell diese unbegründeten Ängste sie in einen Feigling verwandelt hatten. Den Rest des Tages verbrachte sie im Garten und pflanzte ihre Sommerzwiebeln, froh, es endlich erledigen zu können, dennoch blickte sie immer wieder von ihrer Arbeit auf und sah sich mit der Schaufel in der Hand um, als könnte sich hinter ihr jemand anschleichen.
     
    Alles

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