Emily, allein
Liebe, Emily
Sie wünschte sich nichts zum Muttertag, nur dass ihre Kinder glücklich waren. Der Blumenstrauß, den Kenneth schickte, war schön - Emily stellte ihn auf den Couchtisch, wo Rufus an den rosafarbenen Astern schnupperte, als wären sie essbar -, doch die Blumen bedeuteten ihr nicht so viel wie ein Anruf von ihm.
Sie musste nicht lange darauf warten. Wie jeden Sonntag kämpfte sie sich nach der Rückkehr vom Kaffeekränzchen durch die Times, als das Telefon klingelte. Schon Kenneths Zuverlässigkeit war ein Geschenk, und obwohl er durch diese Beflissenheit, es allen recht zu machen, ängstlich wurde oder verschlossen, wenn er das Gefühl hatte, versagt zu haben, glich er seinem Vater auch darin, dass er keinen Menschen absichtlich verletzen würde, ein Wesenszug, den Emily, selbst nicht mit einem ausgeglichenen Temperament gesegnet, an ihm schätzte und um den sie ihn beneidete.
«Alles Gute zum Muttertag, Mom.»
«Jetzt ist alles gut.» Sie bedankte sich für die Blumen.
«Damit hatte ich nichts zu tun.»
«Trotzdem, sie sind wunderschön. Und, was gibt’s in New England Neues?»
Nicht viel. Allen ging es gut. Nach langen Diskussionen schrieb Sam sich endlich fürs Sommersemester ein.
«Das ist ja wunderbar», sagte Emily.
«Wir werden sehen.»
«Du klingst nicht überzeugt.»
«Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Er und die Uni, das passt nicht zusammen.»
«Das verstehe ich, aber was ist die Alternative?»
«Eben.»
«Du kannst ihn nur weiter ermutigen. Ich fände es gut, wenn Margaret mal mit ihm reden würde.»
«Keine schlechte Idee», sagte er, eins von Henrys beliebtesten Ausweichmanövern.
«Sag ihm jedenfalls, dass ich ihm die Daumen drücke.»
«Mach ich.»
«Ah! Wichtige Frage: Schafft er es trotzdem, nach Chautauqua zu kommen?»
«Ich wusste, dass du danach fragen würdest. Seine Abschlussprüfungen finden in der dritten Juliwoche statt.»
«Prima.»
Danach gingen sie zu allgemeineren Themen über, was Emily die Gelegenheit gab, sich darüber auszulassen, wie sehr sie die Wahl und den hoffnungslosen Zustand der Welt leid sei. Er müsse Arlene mal nach den Pirates fragen, sie habe von deren Faxen die Nase voll. Das Wetter sei feucht, doch in ihrem Garten gehe es gut voran. Rufus halte sich tapfer. Das Haus der Millers stehe nach wie vor zum Verkauf. Wie immer hatte sie das Gefühl, sie habe nichts Neues zu berichten, als sei ihr Leben zum Stillstand gelangt.
«Okay», sagte er und «Ich liebe dich, Mom» und noch mal «Alles Gute zum Muttertag», dann verabschiedete er sich. Sie hatte die Stereoanlage leiser gedreht, um sich unterhalten zu können, und als sie das Telefon ins Ladegerät zurückstellte, wurde es im Haus still.
Margaret würde auch irgendwann anrufen. Emily hatte längst gelernt, dass es nichts brachte, darauf zu warten, daher drehte sie den Ton wieder lauter, wandte sich dem Kulturteil zu und las die Kritik über das Emerson Quartet weiter, die ihr gefallen hatte, doch statt sich vorzustellen, dass sie im Lincoln Center im obersten Rang saß, machte sie sich Sorgen um Sam und um Sarah, die ihren Job in Chicago verloren hatte. Wenn Sarah wieder bei Margaret einziehen müsste, wäre das für sie - für alle beide - das Schlimmste auf Erden, und Emily fragte sich, ob sie ihre Hilfe anbieten sollte oder ob Margaret das, wie so viele ihrer Offerten, falsch auffassen würde.
Als Mutter konnte sie nicht behaupten, bei Margaret ihr Bestes getan zu haben, doch sie hatte sich noch bemüht, als andere wohl längst aufgegeben hätten. Henry hatte jedenfalls aufgegeben, zermürbt von den ständigen Versprechungen, die sich als Lügen erwiesen, den kurzen trockenen Phasen zwischen Behandlung und Rückfall, den verlorenen Jobs und den Kreditkartenschulden. Obwohl sie vollstes Verständnis dafür hatte, war seine Abwendung von ihrer Tochter vielleicht das größte Leid in Emilys Leben gewesen. Die ganze Zeit über hatte sie Margaret in ihre Pläne mit eingeschlossen, obwohl sie in jener schrecklichen Zeit oft gewusst hatte, dass sie ihre Einladungen ignorieren oder kategorisch ablehnen würde und, wenn sie sie annahm, das Ganze katastrophal ausgehen würde. Für Emily war Margarets Abwesenheit traurig gewesen, für den Rest der Familie eher eine Erleichterung. Kenneth und Henry hatten Margaret peinlich gefunden, genau wie Sarah und Justin, die sich ihr warnendes Beispiel anscheinend zu Herzen nahmen und sich selbst versorgten und gute Noten erzielten, um in ein
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