Emily, allein
geordneteres Leben flüchten zu können - aber das sei längst vorbei, würde Margaret beteuern. Inzwischen war sie seit fast vier Jahren trocken. Sie sprach gern von einem Neubeginn, und in mancher Hinsicht hatte sich ihre Beziehung tatsächlich verändert, doch oft war es noch derselbe Kampf, den sie führten, seit Margaret dreizehn geworden war. Obwohl Margaret offener und liebevoller war - manchmal auf theatralische Weise, als könnte sie in ihrer Dankbarkeit ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten -, hegte Emily den Verdacht, das sei nicht ganz echt. Genau wie ihre ständigen Bemerkungen über Wiedergutmachung und ihre Hingabe an eine höhere Macht, während Emily sich einfach nur wünschte, dass sie Verantwortung für ihr früheres und jetziges Leben übernahm. Ihre Geldsorgen, die vielen Liebhaber, die Unfähigkeit, außer den spontansten Plänen irgendetwas zu Ende zu führen - das waren dieselben Probleme, die Margaret schon immer geplagt hatten.
Bestürzt über ihren Gedankenbogen - ausgerechnet heute -, faltete sie die Zeitung zusammen und ging mit ihrer Tasse in die Küche, um sich nachzuschenken. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, starrte sie durch die Hintertür auf die tropfenden Bäume und wunderte sich über die fortlaufende Kette, die von ihrer Großmutter Benton über ihre Mutter, sie selbst und Margaret bis zu Sarah reichte. War ihre Mutter über sie auch so unglücklich gewesen? Denn sie hatten sich genauso oft und heftig bekämpft. In ihren späteren Jahren hatte sie sich beklagt, dass Emily nie zu Besuch kam, dass sie immer nach Pittsburgh kommen mussten, um die Enkelkinder zu sehen, ein Vorwurf, den Emily vehement bestritt, da es ihr so vorkam, als würde sie ständig nach Kersey fahren. Immer, nie - beide hatten einen unnachgiebigen Standpunkt vertreten. Das alte Haus war eingeschossig, und wenn sie und Henry zu Besuch kamen, schliefen sie in Emilys Zimmer, die Rosentapete seit der Weltwirtschaftskrise unangetastet, die Zimmerdecke voll Wasserflecken, und schon am zweiten Tag wäre Emily am liebsten wieder gefahren. Wie oft musste sie ihre Freiheit erringen, und war es nicht widernatürlich, so zu denken? Denn sie liebte ihre Mutter. Dieses Gefühlswirrwarr war zermürbend. Sie wünschte, das könnte sie Margaret erklären - als wären sie, nur weil sie Mütter und Töchter waren, alle in etwas Größeres verstrickt, woran sie im Grunde genommen unschuldig waren.
Sie kehrte zu Henrys Sessel zurück, breitete die Wolldecke über ihren Schoß und zog die Lampe näher heran, um sich unter der wärmenden Glühbirne weiter mit dem Rätsel zu beschäftigen, doch nach wenigen Minuten legte sie die Zeitung weg, schlug die Decke zurück und stand auf, wodurch Rufus erwachte. Er beobachtete, wie sie an ihm vorbei nach oben ging, folgte ihr jedoch nicht, und dafür war sie dankbar. Denn bei dem, was sie vorhatte, musste sie ungestört sein.
Bedächtig, den Kopf gesenkt, den Blick auf die Stufen gerichtet, stieg sie in den ersten Stock hinauf, davon überzeugt, dass sie einen Fehler beging. Egal, ob als Buße oder aus Hingabe, sie vollzog dieses Ritual regelmäßig und durchwühlte ihre Schätze wie eine Kuratorin, wohlwissend, dass es nichts ändern würde. Wie Margaret, wenn es um Schokolade ging, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen.
In ihrem Zimmer stellte sie sich feierlich vor ihre Frisierkommode. Die hatte ihrer Mutter gehört, und Emily hatte sie aus dem alten Haus gerettet und für viel Geld wiederherrichten lassen. Die oberste Schublade war flach, ein Aufbewahrungsort für Kofferanhänger und Reisewecker, Schuhlöffel und Pässe. Ihre Mutter hatte alles aufgehoben, und als Emily nach deren Tod die Schublade geöffnet hatte, war sie verblüfft gewesen. Viel von dem Kram stammte noch aus Emilys Kindheit. Sie fand dort ihre Geburtsurkunde, ihre silberne Rassel und die Brieftasche ihres Vaters. Inmitten dieser Andenken lag auch, wie ein Geschenk mit einem gelben Band verschnürt, ein Bündel handgezeichneter, an den Rändern schon vergilbter Karten, die Emily längst vergessen hatte. Ihre mit Bleistift gezeichneten Herzen, Blumen, Torten und Häuser zelebrierten die ungetrübte Freude eines Einzelkinds. Da waren, zu jeder Jahreszeit, die lächelnden Strichmännchen unter einer lächelnden Sonne. Beim ersten Durchblättern der Karten hatte sie sich nicht nur für die krakelige Schrift, sondern auch für ihre Ernsthaftigkeit geschämt. Immer wieder schlossen sie
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