Emily, allein
rumtreibt. Haben Sie gehört, wie er seiner Angebeteten ein Ständchen gebracht hat?»
«Ach, das war ein Kater?»
«Er und Buster hatten letzte Woche eine Auseinandersetzung. Ich lasse ihn jetzt nachts lieber im Haus. Ich hab keine Lust auf einen Besuch beim Tierarzt.»
«Nein», pflichtete ihr Emily bei und bedankte sich noch mal.
Marcia ging rückwärts vor ihr her die Einfahrt hinunter und winkte Emily nach links, damit sie nicht gegen den Zaun der Coles stieß. Emily brauchte keine Hilfe mehr, folgte ihr aber im Schneckentempo und winkte, als Marcia die Verandatreppe hinaufstieg und dort stehenblieb.
Bevor sie auf die Grafton Street bog, hielt sie an. Sie musste eine Weile herumfahren, um die Batterie aufzuladen. Sie hatte gedacht, den Wagen wieder flottzumachen - und zwar vor dem Mittagessen -, sei eine größere Aktion, doch jetzt stellte sie fest, dass sie nicht wusste, wo sie hinfahren sollte. Aus Gewohnheit lenkte sie den Wagen bergab, in Richtung Highland Avenue. Sobald sie in Fahrt waren, legte sich Rufus hin und rollte sich auf dem Sitz zusammen, als sei ihm kalt. Sie musste den Wagen in einer Werkstatt inspizieren lassen, doch dafür brauchte sie einen Termin. Sie konnte durch den Park fahren, am AquaZoo vorbei, wo die Straßen breit und um diese Tageszeit leer waren. Als sie sich die von Schulbussen gesäumten Kurven vorstellte, hatte sie plötzlich das schreckliche Gefühl, die Hintertür des Hauses nicht abgeschlossen zu haben. Zu spät. An der Ecke blinkte sie links und fuhr in Richtung East Liberty, aber eigentlich - warum sollte sie es leugnen? - Richtung Regent Square und Arlene. Das war die Strecke, die sie am häufigsten fahren würde, und wie die erste scharfe Kurve bestätigte, brauchte sie noch viel Übung.
Pilger
Am Nachmittag rief Kenneth an, wobei er versuchte, dasStimmengewirr im Hintergrund zu übertönen. «Wir sehen uns alle das Spiel an», erklärte er, und Emily hörte an seiner Stimme, dass er Bier getrunken hatte. Sie stellte ihre Stereoanlage leiser, als könnte das helfen. Bisher hatte sie einen ruhigen Tag gehabt, hatte sich Brittens War Requiem angehört, die Kataloge in ihrem Korb durchgeblättert und mögliche Weihnachtsgeschenke für die Enkelkinder mit einem Eselsohr markiert.
Als Kenneth anrief, hatte sie mit offenen Augen von Coventry geträumt, und die Musik hatte die feierliche Ehrfurcht heraufbeschworen, die sie verspürt hatte, als Henry und sie über die Steinplatten der zerbombten Kathedrale geschritten waren, die wie geklöppelt wirkenden Bögen zum blauen Himmel hin offen. Die neue Kathedrale fand Emily nicht besonders gelungen, unnötig modern (jetzt, vierzig Jahre später, wirkte sie altmodisch, ja einfach hässlich), doch die Ruine machte das wett. Henry hatte bestimmt fünf Filmrollen darauf verwendet, den warmen Orangeton einzufangen, den die untergehende Sonne auf den Steinen zum Vorschein brachte. Alles war ein Fotomotiv. Der heilige Michael und der Teufel. Das Kreuz aus verkohlten Dachbalken hinter dem Altar und die vergoldete Inschrift FATHER FORGIVE an der Wand. Das farbige Glas im Baptisterium. Sie hatte sich gewünscht, er würde die Kamera wegpacken, doch sie hatte auch gewusst, dass sie nie wieder herkommen würden, und genau wie sie wollte er alles festhalten. Nachts hatten sie nach einem schweren, mit süßlichem Portwein abgerundeten Abendessen vom Fenster ihres schmuddeligen Gasthauses aus den Kirchturm gesehen, der beleuchtet wurde und sich vor dem dunklen Himmel abzeichnete, und sie hatte sich vorgestellt, wie die Flugzeuge ihre Stützpunkte in Deutschland verließen und in die eiskalte Luft aufstiegen. Als Kind hatte sie den Radioberichten aus London gelauscht, sicher aufgehoben inmitten der endlosen Hügel von Pennsylvania, und hatte in ihrer Naivität überlegt, was sie tun würde, wenn die Nazis Kersey mit einem Blitzkrieg überzögen. Auch wenn das Ganze jetzt kindisch klang, war es kein albernes Spiel gewesen. Ihre Angst war real gewesen, und schließlich dort zu sein, wo die Menschen die Angriffe überlebt und mit Würde und guter Laune weitergemacht hatten, war erhebend und ehrfurchtgebietend zugleich. Die Reise war ein Geburtstagsgeschenk von Henry gewesen, die Einlösung eines Versprechens, ein alter Traum von ihr, und es erfüllte sie mit einer wehmütigen Genugtuung, das Ganze noch mal zu durchleben. Das Telefon hatte den Bann gebrochen. Sie war nicht überrascht, dass es Kenneth war. Er hatte schon immer ein
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