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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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macht keinen Spaß, alt zu werden. Aber wenigstens musst du nicht vor den Leuten herumstolzieren.»
    Dieser Gedanke ging ihr noch durch den Kopf, als Arlene sie abholte. Selbst in der Dunkelheit des Wagens wirkte Arlenes Lippenstift zu grell, der Versuch, einen Zauber zu versprühen, der eigentlich erst mit über siebzig in Mode kam - ein vampirartiger Joan-Crawford-Effekt. Ihr Parfüm roch fruchtig und stach Emily in die Nase.
    «Du siehst aber gut aus», sagte Arlene.
    «Du auch», erwiderte Emily.
    Arlene konnte schon tagsüber nicht besonders gut sehen, und so dauerte die Fahrt nach Oakland, das nicht einmal anderthalb Kilometer entfernt lag, über eine Viertelstunde. Als sie hinter einem vertrauten Cadillac zum Club abbogen, war Emily erleichtert zu sehen, dass mehrere Bedienstete an der Wagenauffahrt warteten, um die Autos einzuparken.
    Drinnen, unter den funkelnden Kronleuchtern, fand sie Arlenes Lippenstift nicht mehr so auffällig, wenn auch nur, weil ihr Blick sofort auf Arlenes Stirn fiel. Die Wunde war immer noch bläulich, die Naht noch zu sehen. Emily hätte an ihrer Stelle ein Kopftuch oder einen Turban getragen, wie Louise nach ihrer Chemo, doch Arlene kannte entweder keine Scham oder war völlig arglos. Sie hatte sich das Haar frisieren lassen und trug ihre Diamantohrringe und den dazu passenden Anhänger von Henrys Mutter. Als sie durch die Eingangshalle zur Haupttreppe gingen, die an der hinteren Wand in weitem Bogen nach oben führte, kamen sie an anderen Mitgliedern vorbei, die, in Gespräche vertieft, mit Cocktails in der Hand dastanden. Emilys erster Impuls war, Arlene vor ihnen abzuschirmen, doch die schiere Anzahl machte das unmöglich, und plötzlich winkte Arlene Lorraine Havermeyer und Edie Buchanan zu, als wollte sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
    Lorraine und Edie waren beste Freundinnen, rüstige, etwa neunzigjährige Witwen, die in den alten Webster-Hall-Apartments ein paar Straßen weiter an der Fifth Avenue wohnten. Obwohl abgezehrt und gebeugt, gehörten sie bei Veranstaltungen zum festen Inventar, unzertrennlich, bei jedem Vortrag und jeder Eröffnung in der Carnegie oder der Scaife Hall, bei jeder Premiere im Benedum Center dabei. Mit Emily im Schlepptau ging Arlene direkt auf die beiden zu. Alle wünschten sich gegenseitig ein frohes Thanksgiving und erkundigten sich nach ihren Familien.
    «Wir haben gehört, was passiert ist», sagte Lorraine und deutete auf die Wunde.
    Statt das Ganze herunterzuspielen, neigte Arlene den Kopf, um ihnen einen besseren Blick zu gewähren.
    Beide reckten den Hals vor und musterten das Werk des Arztes wie konkurrierende Chirurgen.
    «Das war bestimmt schrecklich», mutmaßte Edie.
    «Weiß ich nicht», sagte Arlene. «Ich war völlig weggetreten. Emily musste sich um alles kümmern.»
    «Sieht aus, als hätte es wehgetan», sagte Edie.
    «Hat’s am Anfang auch, aber der Arzt hat mir ein wirklich gutes Schmerzmittel gegeben. Eine Weile hatte ich keinen Schimmer, wo ich mich befinde, und es war mir auch ziemlich egal.»
    «Es hätte wesentlich schlimmer ausgehen können», sagte Emily.
    Oh, sie habe Glück gehabt, pflichteten ihr die beiden bei. Das Gespräch wandte sich Stürzen zu, einem Lieblingsthema, das zudem zur Jahreszeit passte, denn der Winter stand kurz bevor, und Eis war ihr Todfeind. Jean Daly sei in der Küche ausgerutscht und habe sich die Hüfte gebrochen, und jetzt wollten ihre Kinder sie in ein Heim verfrachten. Emily ärgerte sich über den entsetzten Ton, in dem Lorraine die Geschichte zum Besten gab. Es war eine Geschichte mit Moral, und die Moral lautete Fall nicht hin, als wären sie alle aus Glas. In gewisser Hinsicht stimmte das auch - ihre Gebrechlichkeit war eine unbestreitbare Tatsache, medizinisch erwiesen -, und dennoch verabscheute Emily die unvermeidlichen Berichte über Unfälle und Tragödien, bei denen die Glücklicheren mit der Zunge schnalzten und dem Himmel dankten, obwohl sie genau wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war. Sie brauchte nicht daran erinnert zu werden, dass sie nur einen einzigen Schritt vom Unglück entfernt war, besonders hier, ohne Henry, umringt von den Überlebenden ihres früheren Lebens.
    Ihr war klar, dass es nur an ihrer Stimmung lag, dass sie einen schlechten Tag gehabt hatte und sich selbst bemitleidete. Normalerweise war der Club ein Trost, immer gleichbleibend, wie die Kirche eine Bastion bürgerlicher Umgangsformen und Beständigkeit. Die dorischen Säulen und die

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